Mindestlohn: Was bin ich – und wenn ja wie viele? Eine sozio-politische Zeitreise durch die deutsche Mindestlohn-Geschichte von Laurent Joachim

Teil 2 von 4 – Tagesbrot zwischen Höhen und Tiefen

Branchenspezifische Mindestlöhne, (k)eine Alternative?!

Ende 2013 gab es 14 solche „branchenspezifischen Mindestlöhne“, welche eigentlich nichts anderes als von der Regierung gesponserte Tarifverträge sind. Diese Mindestlöhne erstrecken sich von 7,50 Euro pro Stunde (Wach- und Sicherheitsgewerbe, sowie Zeitarbeit in einigen Bundesländern) bis 13,70 Euro pro Stunde (Baugewerbe im früheren Bundesgebiet)1. Hinzukommt, dass verschiedene Mindestlöhne durch eine Vielzahl von Gesetzen und Verordnungen bestimmt werden. Zu nennen sind unter anderem das Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG), dasArbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG), das Tarifvertragsgesetz (TVG)und das Mindestarbeitsbedingungengesetz (MiArbG). Ein höchst kompliziertes Geflecht.

Eine interessante Entwicklung fand deswegen 2013 im Friseurgewerbe statt. Eine Branche, die mit über 85%2 der Angestellten im Niedriglohnsektor wie kaum eine andere unter Lohndumping zu leiden hat: Anfang April 2013 haben sich die Landesverbände und die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di über einen bundesweit einheitlichen Mindestlohn von 8,50 Euro in der Friseurbranche3 (in drei Stufen ab 2013 bis 2015) geeinigt4, nicht zuletzt, weil viele Kleinbetriebe mittlerweile des existenzbedrohenden Lohndumpings der Billig-Salons und Billig-Ketten überdrüssig sind.

Anlässlich einer Großrazzia in Nordrhein-Westfalen deckte der Zoll im Jahr 2009 Löhne in Friseur-Salons von gerade mal 1,50 Euro pro Stunde auf5. Ein Skandal und eine Straftat, aber keine wirklich große Überraschung. Schon 2008 wurde in einem Artikel6 im Münchener Merkur, exemplarisch für die Branche, über den besorgniserregenden Umfang der Missstände in den Friseur-Salons der Stadt geschrieben und die Logik bzw. da System erklärt, die dahinter stecken:

16 Münchner Betriebe haben die Fahnder am vergangenen Samstag kontrolliert – die meisten davon Billig-Salons (…). ‚In 13 Geschäften haben wir Verstöße festgestellt‘, bestätigt René Matschke, Leiter der Schwarzarbeit-Fahnder im Münchner Hauptzollamt. So konnte trotz sogenannter Meisterpflicht fast keiner der geprüften Betriebe einen Meister benennen, der die geforderte Arbeitszeit in dem Salon tätig ist. Matschke: ‚In einem Fall wurde sogar ein Lehrling ohne Meister ausgebildet.‘

Teuer wird es für mehrere Betriebe, die ihr Personal nicht nach dem geltenden Tariflohn bezahlt haben. Obwohl die Untergrenze der Löhne bei 7,04 Euro pro Stunde liegt, hat ein Friseur seinen Mitarbeitern sogar nur 5,25 Euro brutto gewährt. Da der Tarifvertrag seit einem Jahr allgemein verbindlich ist, besteht jedoch nicht nur für die Arbeitnehmer ein Rechtsanspruch – auch die Sozialversicherung ist für den Mindestlohn fällig. Diese Beiträge wurden in zahlreichen Fällen unterschlagen.

In zwei geprüften Betrieben waren Beschäftigte sogar überhaupt nicht angemeldet. Ein Ausländer arbeitete ohne Arbeitserlaubnis. In diesen Fällen werden Straf- und Bußgeldverfahren gegen die Inhaber eingeleitet. Die unterschlagenen Sozialversicherungsbeiträge müssen ohnehin nachgezahlt werden.

Christian Kaiser, Obermeister der Friseur-Innung in München, überraschen die Fahndungs-Ergebnisse nicht: ‚Wir haben diese Missstände schon häufiger angeprangert.‘ Mit der kontinuierlichen Zunahme von Billig-Salons und dem dadurch immer härter werdenden Preiskampf sei Lohndumping die logische Konsequenz. ‚Ein Haarschnitt für acht Euro kann nicht rentabel sein‘, sagt Kaiser (…).

Einzelne Betriebe wurden in den vergangenen Jahren immer wieder einmal bei Verdacht kontrolliert, aber eine Großrazzia wie am vergangenen Wochenende gab es zuvor jedoch noch nie. ‚Ich kann das nur begrüßen‘, sagt Obermeister Kaiser. Er erhofft sich dadurch wieder mehr Seriosität in seiner Branche“.

Die tarifliche Einigung zwischen Ver.di und den Arbeitgebervertretern ist zwar sehr begrüßenswert, hat aber auch ihre Tücken, denn die Allgemeingültigkeit von Tarifen muss nachträglich behördlich anerkannt werden, sodass die Einigung zuerst nur für einen Teil der Beschäftigten greift, auch wenn eine Allgemeingültigkeit vermutet wird, wie Ver.di selbst darauf hinwies:

Zunächst gilt der Mindestlohn-Tarifvertrag für über 92.000 Friseurinnen und Friseure, die bei einer der 25 Tarifparteien arbeiten. Um einen Antrag auf Allgemeinverbindlichkeit beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales stellen zu können, müssen die vereinbarten Tarifregelungen für mindestens die Hälfte aller Beschäftigten des betroffenen Handwerks gelten. Bundesweit geht ver.di von 160.000 bis 180.000 angestellten Friseurinnen und Friseuren aus. Damit dürfte einer Allgemeinverbindlichkeit des Tarifvertrags nichts mehr im Wege stehen. Das heißt, dann gilt der Tarifvertrag auch für nicht tarifgebundene Arbeitgeber im Friseurhandwerk und schützt alle Friseurinnen und Friseure in Deutschland vor Niedrigstlöhnen“7.

Branchenspezifische Mindestlöhne: nur eine Notlösung

Ein Paradebeispiel für die mit Branchenmindestlöhnen verbundene Unsicherheit wurde gleich 2007 mit dem ersten Versuch deutlich. Die Post- und Paketdienstbeförderungsbranche, ebenfalls von einer nicht enden wollenden Lohnspirale nach unten geplagt, handelte im eigenen Interesse, um den Missständen ein Ende zu setzen und versuchte mit besseren Spielregeln die Konkurrenz auf andere Gebiete zu verlagern. Die Sozialpartner, in diesem Fall der Arbeitgeberverband Postdienste e.V. und die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di einigten sich daraufhin (2007) über einen Mindestlohn in Höhe von 9,80 Euro. Die Einigung, die das Hauptziel verfolgte dem Unterbietungskampf in der Branche einen Riegel vorzuschieben, wurde vom Bundesarbeitsministerium als allgemeinverbindlich erklärt und sicherte allen Beschäftigten in der Branche, inklusive den 132.000 Angestellten der Deutschen Post, eine sozialverträgliche Entlohnung.

Doch dann, drei Jahre später (2010), erklärte das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, dass der vereinbarte Mindestlohn rechtswidrig ist (Urteil vom 27.1.2012, Az. 8 C 19.09), worauf die PIN Mail AG8 (ca. 1.000 Angestellte), eine Tochter der Holtzbrinck-Verlagsgruppe, mit sofortiger Wirkung den Lohn ihrer Briefboten um ganze 13%9 kürzte.

Dieser Vorgang darf nicht verwundern. Er entspricht der von Wirtschaftsliberalen lauthals geforderten schrankenlosen Selbstregulierung der Märkte: der Arbeitnehmer ist nur eine Variable innerhalb eines gesamten Kostenapparats und seine Entlohnung wird den selbsternannten Zielen des Unternehmens angepasst bzw. untergeordnet, sodass der Mensch hinter dem Arbeitnehmer schnell zum Spielball eines reinen ökonomischen betriebswirtschaftlichen Rentabilitätskalküls wird – ungeachtet der volkswirtschaftlichen Spätkosten, die davon abgeleitet werden müssen.

Laut der Gewerkschaft Ver.di liegen heute die Einstiegslöhne der Zusteller der PIN Mail AG mit 1.380 bis 1.490 Euro brutto monatlich (ca. 8,10 bis 8,80 Euro pro Stunde) etwa 40% unter denen der Deutschen Post10. Es sind aber bessere Löhne als noch 2007. Damals wurde bekannt, dass das Unternehmen Lohndrückerei im großen Stil betrieb. In Schleswig-Holstein lag das Bezahlungsniveau der PIN Mail AG 70% unterhalb des Flächentarifvertrages, sodass in mindestens einem Fall ein Lohn von nur 3,36 Euro pro Stunde ausgezahlt wurde11. Trotzdem beklagt die Gewerkschaft heute noch: „Wenn sie krank sind, müssen die Mitarbeiter Lohneinbußen in Kauf nehmen, weil die Anwesenheitsprämie wegfällt. Viele Arbeitsverhältnisse sind befristet. Überstunden sind die Norm“. Dagegen beteuert die Geschäftsführung: „Bei höheren Löhnen könnten wir den Betrieb nicht dauerhaft aufrecht erhalten“, berichtete 2012 der Berliner Tagesspiegel12.

Fakt ist, dass die Wirtschaftsvariable mit dem meisten Optimierungspotenzial, im Konkurrenzkampf von der PIN AG mit den größeren Anbietern, der Faktor Arbeit, also der Mensch, ist. Die Auto-Hersteller oder die Ölkonzerne werden bestimmte Preise für die Lieferung von Kleintransportern und Diesel-Kraftstoff nicht unterschreiten und tendenziell einen Mengenrabatt an die größeren Abnehmer geben, in diesem Fall der Deutschen Post AG, sodass die „Menge Arbeit“ der Buchhaltungsposten ist, wo sich am einfachsten Kosten drücken lassen.

Von den durch niedrigere Löhne erzielten niedrigen Porto-Preisen profitiert als erstes das Land Berlin, dessen Kassen, unter anderem aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit in der Stadt (11,7% im August 2013), notorisch klamm sind.

Die PIN Mail AG befördert im Rahmen eines bis mindestens 2014 laufenden Vertrags mit dem Land die gesamte Behördenpost bis 1000g. Laut einem Bericht des Berliner Tagesspiegels umfasste der Vertrag (2007) „28 Millionen Sendungen pro Jahr bei einem Umsatz von 12,6 Millionen Euro“13. „Gleichzeitig müssen etliche PIN-Beschäftigte noch ergänzende Sozialleistungen beziehen, um über die Runden zu kommen oder Nebenjobs ausüben“14 behauptet jedoch Ver.di noch im Jahr 2013.

Keine wirkliche Überraschung: schon 2007 rügte der damals „rot-rote“ Berliner Senat das Unternehmen und mahnte, es solle Tariflöhne zahlen (9,80 Euro), wenn der Vertrag weiterbestehen solle. 2013, sechs Jahre später, erhalten die Angestellten der PIN Mail AG immer noch keine 9,80 Euro pro Stunde, obwohl das Leben sich in Berlin spürbar verteuert hat – aber das Land Berlin ist weiterhin einer der Hauptauftraggeber des Unternehmens.

Betrachtet man das Gesamtbild, dürfte es für Deutschland nicht wirklich zielführend sein, wenn Länder einerseits scheinbar günstige Verträge mit Firmen abschließen, die ihren Angestellten so wenig bezahlen, dass diese andererseits vom Staat ergänzende Leistungen beziehen müssen15. Man kann sich bei solchen Beispielen wahrlich nicht wirklich des Eindrucks erwehren, dass der Behördensparfuchs sich manchmal selbst in den Schwanz beißt, und zwar ziemlich heftig.

Es wird dem Postmindestlohn – ein Feldversuch, wenn man so will – zur Last gelegt, dass aufgrund seiner Einführung private Postunternehmen nicht mehr konkurrenzfähig gewesen und folglich Konkurs gegangen seien. Das stimmt. Doch es ist in einer Gemeinwohl-Ökonomie nicht unbedingt schlecht, ganz im Gegenteil.

In einer unregulierten Marktwirtschaft kann die Unterbietung oder gar die Umgehung von Sozialminima fester Bestandteil des Geschäftsmodells von einigen Unternehmen sein. Die PIN AG (wie andere Anbieter, die nicht überlebt haben) wäre sonst, mangels adäquater Infrastruktur, mit der übermächtigen deutschen Post nicht einmal ansatzweise konkurrenzfähig gewesen.

Das zeitweilige Bestehen eines Branchenmindestlohns hat also den Markt zumindest teilweise bereinigt – und dies ist sicherlich als positiver Versuch zu erkennen, denn im Ergebnis stimmt es nicht, dass die Deutschen nach Einführung des Branchenmindestlohns plötzlich weniger Briefe und Pakete versandt hätten, oder dass das Postwesen zusammengebrochen wäre. Die Postbeförderung wurde einfach unter die Anbieter mit dem besten Konzept im Rahmen der bestehenden Regelungen verteilt und die Konkurrenz größtenteils auf andere Bereiche als „Lohnkostenoptimierung“ verlagert. Dies durfte für die gesamte Branche die Rettung gewesen sein, denn die Gefahr der Entregulierung eines Marktes ist nämlich, dass eine Spirale nach unten entsteht, in welche alle Marktakteure gezwungen werden, womit der Markt zu einem bestimmten Zeitpunkt unweigerlich kollabieren muss.

Gleichwohl zeigt die kurz darauffolgende Tilgung dieses Mindestlohns in stellvertretender Weise auch, wie anfällig und unzweckmäßig „Flickenteppich-Regelungen“ im Fall der Auslotung von Sozialminima sind.

Auch der Versuch einiger Bundesländer zumindest die Vergabe von öffentlichen Aufträgen an die Auszahlung von Mindestlöhnen zu verknüpfen, konnte sich nicht durchsetzen, weil die Praxis nicht mit EU-Recht vereinbar ist16.

Trotz diesen Erkenntnissen lehnte Bundeskanzlerin Angela Merkel noch kurz vor der Bundestagswahl einen branchenübergreifenden und flächendeckenden Mindestlohn weiterhin kategorisch ab und favorisierte sogenannte branchenspezifische Lohnuntergrenzen, denn „Notfalls werde der Staat künftig Arbeitgeber und Gewerkschaften gesetzlich dazu verpflichten, einen Tarifvertrag abzuschließen“17, betonte Frau Merkel noch im August 2013, ohne erklären zu wollen, wie diese Maßnahme implementiert werden sollte.

Im September 2013, in der Woche vor der Bundestagswahl, in einem letzten politischen Atemzug der Regierung Merkel II, wurden folglich die 11.400 Steinmetze und Steinbildhauer der Bundesrepublik von der Regierung in Schutz genommen und als 14. Berufsgruppe mit einem eigenen branchenspezifische Mindestlohn bedacht.

Da es laut der Bundesagentur für Arbeit in Deutschland rund 25.000 verschiedene Berufs- und Berufsausbildungs-Bezeichnungen18 gibt, hätte es nach dem von Angela Merkel favorisierten Modell für die neue Regierung nach der Wahl nur noch um die 24.986 branchenspezifischen Abschlüsse zu verhandeln gegeben – ein wahrhaftiger Fortschritt.

Das Satire-Magazin Titanic brachte den tiefen Sinn der Maßnahme deshalb auf den Punkt19:

Um vor der Wahl ein energisches sozialpolitisches Zeichen zu setzen, hat die Bundesregierung heute Morgen [18.09.2013 A.d.R.] einen Mindestlohn für Steinmetze beschlossen. Wenn die Maßnahme beim Wahlvolk einschlägt, will das Kabinett noch am Freitag weitere Lohnuntergrenzen nachlegen, vermutlich für Küfer, Gerber, Leimsieder und Scharfrichter.“

Wohl keine Lösung – das dürfte auch der Frau Kanzlerin klar (gewesen) sein, aber es scheint völlig irrelevant gewesen zu sein und es ist auch kein Einzelfall, denn seit Verkündung der Hartz-Reformen, vor 10 Jahren, wird ein ganzes Volk immer wieder nach parteipolitischer Opportunität am offenen Herzen operiert, manchmal ungeachtet dessen, ob es wirklich im Interesse des Gemeinwohls ist.

Ergebnis: Laut der Hans-Böckler-Stiftung20 verdiente im Jahr 2013 ein Fünftel aller Beschäftigten weniger als 8,50 Euro die Stunde und laut dem europäischen statistischen Amt Eurostat lebt im gleichen Jahr fast jeder sechste Deutsche in Armut oder wird von Armut bedroht21.

Ein kohärentes System von sozialsinnvollen, wirtschaftlich vernünftigen und gesellschaftlich zukunftsweisenden Weichenstellungen müssen deshalb erarbeitet und implementiert werden, damit diesen Missständen einen Riegel vorgeschoben wird. Der Mindestlohn kann nur Teil dieses Systems sein.

Bei der Auslotung dieser Sozialminima geht es in Wirklichkeit also nicht nur um die Einführung eines Mindestlohns, sondern auch und entscheidender Weise um die Bestimmung seiner Höhe und seines Deckungsumfangs bzw. Geltungsbereichs.

Die Frage lautet am Ende nämlich: Was ist der Mensch im demokratischen Staat der Wirtschaft und der Politik geldlich wert?

Ende von Teil 2 von 4.

Fortsetzung folgt.

3 „Der Mindestlohntarifvertrag sieht vor, die Stundenlöhne stufenweise anzuheben: Ab 1. August 2013 müssen in West mindestens 7,50 Euro und in Ost (neue Bundesländer einschließlich Berlin) mindestens 6,50 Euro gezahlt werden. Ab 1. August 2014 wird erneut angehoben – auf 8 Euro Stundenlohn mindestens in West und 7,50 Euro in Ost. Am 1. August 2015 wird der Osten dann endlich den Westen einholen. Dann liegen die Stundenlöhne in Ost und West einheitlich bei mindestens 8,50 Euro“, in: Mindestlohn für Friseurinnen und Friseure, Ver.di, Mitteilung, abgerufen am 19.06.2014 unter www.verdi.de

7Mindestlohn für Friseurinnen und Friseure, Ver.di, Mitteilung, abgerufen am 19.06.2014 unter www.verdi.de

8 Vgl. www.pin-ag.de