Mindestlohn: Was bin ich – und wenn ja wie viele? Eine sozio-politische Zeitreise durch die deutsche Mindestlohn-Geschichte von Laurent Joachim

Teil 1 von 4 – Verklärt, erklärt, aufgeklärt

Um Ausbeutung und Hungerlöhne zu vermeiden wurde der erste nationale Mindestlohn schon 1938 in den USA eingeführt und seitdem hat das Konzept einen wahren Siegeszug erfahren: in 90% der 183 Länder der ILO (Internationale Arbeitsorganisation) gibt es heute Mindestlöhne. Ein klarer Fall, 90% der Länder auf Welt können sich nicht geirrt haben – möchte man meinen, oder gibt es doch (belastbare) Argumente gegen den Mindestlohn?

Am 24. Oktober 2013, kurz nach der Bundestagswahl2 vom 22. September, und mitten in den Koalitionsverhandlungen – genau zu dem Zeitpunkt an dem eine Einflussnahme auf die politische Ausrichtung der zukünftigen Regierungsgeschäfte am vielversprechendsten war – schrieb Thomas Straubhaar3, Direktor des arbeitgebernahen Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI) sowie, laut Lobby Control, Botschafter der neoliberalen Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft einen Gastbeitrag im Politmagazin Cicero mit dem Titel „Der Mindestlohn schadet den Ärmsten“4. In dem Artikel hieß es:

Ich bin klar gegen den Mindestlohn. Denn die ökonomische Theorie sagt eindeutig, dass er weder der Wohlfahrt noch der Gerechtigkeit hilft. (…) Für Arbeitslose ist der Mindestlohn eine Bedrohung. Er verringert die Chancen von Arbeitssuchenden, wieder in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis zurückzufinden. (…) Weder verringern Mindestlöhne das Armutsrisiko, noch sind sie für eine Grundsicherung erforderlich. (…) Das ALG II erhalten alle Bedürftigen, unabhängig von der Ursache ihrer Notlage und unabhängig von Versicherungszeiten. Damit wird zugleich ein der familiären Situation angepasster Mindestlohn definiert. (…) Der Schaden von Mindestlöhnen übersteigt unverändert deren Nutzen. Somit wäre es klug, die Finger davon zu lassen“5.

Fünf Tage später, am 29. Oktober 2013, schaltete sich die Frankfurter Allgemeine Zeitung ein und fragte rhetorisch zweifelnd: „Wie viel Mindestlohn verträgt Deutschland“?6

Kurz darauf, am 4. November, verkündete die FAZ,bezugnehmend auf eine Studie des Berliner Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), ihre leitmediale Antwort auf die eigene Frage und urteilte in ungewöhnlicher Schärfe: „Mindestlohn macht die meisten Haushalte ärmer“7; außerdem müsse man sich im Falle einer Einführung auf den Verlust einer halben Million Arbeitsplätze einstellen, so die Zeitung weiter.

Ein Fehler? Eine Provokation? Versteckte Heuschrecken-Propaganda in einem der sonst seriösesten Blätter der Republik? Oder doch eine fundierte und zu Recht warnende Vorahnung der sich möglicherweise anbahnenden Katastrophe?

Die FAZ kann in dieser Sache jedenfalls die Deutsche Bank auf ihrer Seite wissen.

Diese schaltete sich auch in die Debatte ungefragt ein und veröffentlichte am 1. November 2013, also praktisch zeitgleich mit der FAZ, in ihrer Flaggschiffpublikation Standpunkt Deutschland eine ähnlich lautende Warnung, wonach „Ein solcher Mindestlohn (…) nach [eigenen] Schätzungen [der Bank] zwischen 450.000 und einer Million Arbeitsplätze kosten würde.“ Darauf aufbauend gibt die Deutsche Bank folglich zu bedenken: „Prinzipiell widerspricht ein Mindestlohn dem zentralen Anliegen der Hartz-Reformen Problemgruppen über ein Niedriglohnsegment in den Arbeitsmarkt zurückzubringen“. Deshalb sei laut der Deutschen Bank die geplante Einführung eines Mindestlohns eine „falsche Weichenstellung“8.

Man kann verstehen, die großen Wirtschaftsakteure fürchten die Einführung eines einheitlichen und flächendeckenden Mindestlohns, wie der Teufel das Weihwasser.

Die Bürger dagegen wollen einen Mindestlohn. Soviel ist auch klar. Eine Infratest-Dimap-Umfrage von Anfang Juni 2013 im Auftrag des Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) ergab, dass 86% der deutschen Wahlberechtigten sich für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns aussprechen9.

Alte Debatte, alte Argumente

Die Mindestlohn-Debatte ist nicht neu. Sie ist ganz genau 10 Jahre alt.

Sie fing an, als die Bundesrepublik sich mit den bitteren Konsequenzen der Hartz-Reformen10 auseinandersetzen musste11.

Schon 2004 dachte der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering deswegen öffentlich über die Einführung eines Mindestlohns nach, um die Folgen der Hartz-Reformen abzumildern, denn: „Wir müssen in diesem Bereich der unteren Lohnsegmente eine größere Klarheit und eine bessere Regel haben“12, so Franz Müntefering in einem Interview mit dem Deutschlandfunk am 18. Juni 2004.

Die Rheinische Post zum Beispiel erläuterte im August 2004 die Gründe der Überlegungen des SPD-Chefs wie folgt: „Der SPD-Chef wies darauf hin, dass einige Unternehmer die Ungunst der Stunde nutzten und die Löhne ‚auf unsittliche Weise‘ reduzierten. Die unteren Einkommenssegmente würden ‚von der Tarifautonomie nur begrenzt erreicht‘, (…) [und] An vielen Stellen würden die Löhne ‚dramatisch wegbrechen‘ “13.

Gefahr erkannt, aber… nicht gebannt.

Franz Münteferings Vorhaben scheiterte an dem Widerstand der eigenen Parteispitze und eines Teils der Gewerkschaften.

Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) ließ von seinem Sprecher 2004 verkünden, er sähe „für die Bundesregierung keinen Handlungsbedarf“14 zu Gunsten eines Mindestlohns. Auch der damalige Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit15 Wolfgang Clement (SPD) wiegelte ab und verkündete: „Wir brauchen aus meiner Sicht keinen generellen Mindestlohn“16. CDU und CSU waren naturgemäß gegen den Vorschlag. Lediglich die Grünen sprachen sich vorsichtig für „gesetzliche Garantien“, sowie für „regionale und branchenspezifisch differenzierte Mindestlöhne“17aus. Die Linke gab es noch nicht. Sie wurde erst 2007 gegründet.

Die Gewerkschaften waren sich bei dem Vorstoß denkbar uneinig und vielfach gesteuert von Eigeninteressen. Die Dienstleistungsgesellschaft Ver.di und die Gewerkschaft Nahrung-Genuß-Gaststätten (NGG) gaben bekannt, das Ansinnen grundsätzlich unterstützten zu wollen, aber sowohl der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) Michael Sommer, als auch der IG-Metall-Vorsitzende Jürgen Peters sprachen sich gegen einen Mindestlohn aus, denn „Die Lohnpolitik muss den Tarifparteien vorbehalten bleiben“18, sagte Jürgen Peters 2004 dem Handelsblatt. Eine Position die Michael Sommer grundsätzlich auch vertrat, wenngleich der DGB-Chef das Vorhandensein von Fehlentwicklungen erkannte: „Dieses Land braucht keinen Niedriglohnsektor. Es gibt Fehlentwicklungen, die wir bekämpfen müssen“19.

Der Widerstand der IG-Metall und des DGBs erklärt sich damit, dass die Gewerkschaften nicht die absolute Hoheit über die Tarifverhandlungen verlieren wollten, um die eigene Position nicht zu schwächen. Dabei erkannten sie nicht (oder nahmen billigend in Kauf), dass sich in dem neuen Arbeitsmarkt (nach den Hartz-Reformen) das Kräfteverhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern dramatisch verschoben hatte, sodass ein Großteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nunmehr schutzlos dastand und eine drastische Verschlechterung der Lebensverhältnisse hinnehmen musste.

Im November 2004 gab der Stern den Ausgang des Kräftemessens zwischen Befürwortern und Gegnern eines Mindestlohns bekannt und titelte: „Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland ist vorerst vom Tisch. Darauf haben sich SPD-Chef Franz Müntefering und DGB-Chef Michael Sommer geeinigt“20.

2006, zwei Jahre später also, waren die Probleme auf dem Arbeitsmarkt nicht einmal ansatzweise gelöst, ganz im Gegenteil. Eigenartigerweise hatte sich die politische Position der Kontrahenten von 2004 anlässlich einer Änderung der Mehrheitsverhältnisse im Bundestag und der Verkündung einer schwarz-roten Koalition unter dem Motto „Gemeinsam für Deutschland – Mit Mut und Menschlichkeit“ aber drastisch verändert. „Trotz der Uneinigkeit der Gewerkschaften untereinander forderte der Bundeskongress des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) mit großer Mehrheit einen gesetzlichen Mindestlohn von 7,50 Euro pro Stunde“, denn „Der Niedriglohnsektor muss weg. Und dazu gehört auch ein gesetzlicher Mindestlohn“, erklärte DGB-Chef Michael Sommer im Mai 2006 auf dem Bundeskongress, während Franz Müntefering,von 2005 bis 2007 Bundesminister für Arbeit und Soziales sowie Vizekanzler in einer großen Koalition21 unter Führung von Angela Merkel (CDU), vor einer Festlegung warnte, da er nunmehr tarifliche Mindestlöhne bevorzugen würde22.

Olaf Scholz (SPD), der Nachfolger von Franz Müntefering als Bundesminister für Arbeit und Soziales in der Koalition (2007-2009), zeigte sich aufgeschlossener und sprach sich 2008 für die Einführung von Mindestlöhnen auf kurzfristiger Sicht und für einen einheitlichen Mindestlohn auf langfristiger Sicht aus23. Gleichzeitig steckte der DGB seine Ressourcen zunehmend in den Kampf und bekräftigte 2010 seine Forderung, in dem ab diesem Zeitpunkt einen Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde gefordert wurde24.

Doch erst als Ursula von der Leyen (CDU-Bundesarbeitsministerin einer schwarz-gelben Koalition von 2009 bis 2013) sich im September 2011 öffentlich – aber gegen die Parteispitze und den Wirtschaftsflügel von CDU und CSU – für eine gesetzliche Regelung aussprach, kam etwas Bewegung in die Sache: „Ich bin überzeugt, dass wir über kurz oder lang einen Mindestlohn in allen Branchen haben werden“ zitierte Der Spiegel sie in einem Artikel25. Auch Teile der FDP erkannten zu diesem Zeitpunkt die Notwendigkeit ,den Missständen auf dem Arbeitsmarkt einen gesetzlichen Riegel vorzuschieben: „Es ist nicht marktwirtschaftlich, wenn Menschen acht Stunden am Tag für Löhne arbeiten, von denen sie nicht leben können“, wurde der schleswig-holsteinische Sozialminister Heiner Garg (FDP) in Reaktion auf Ursula von der Leyens Vorstoß vom Spiegel zitiert; zwar wolle er „die Tarifautonomie stärken, wo es die allerdings nicht mehr gebe, müsse ein anderer Mechanismus greifen“, so Heiner Garg weiter, denn „Wir würden damit auch der eigenen Partei helfen, weil wir uns wieder mit der Realität der Menschen befassen würden“ gab er zu Protokoll. Kurz darauf bekräftigte Ursula von der Leyen ihre Position öffentlich-wirksam in der Welt: „Arbeitsministerin von der Leyen sieht in Mindestlöhnen keine Gefahr für Arbeitsplätze. Im Gegenteil – sie würden sogar zu mehr Jobs führen“26, schrieb die Zeitung.

Die politische Konsensfindung war also ein langwieriger und komplizierter Prozess, in dem trotz besseren Wissens gravierende Missstände über Jahre hinweg von den politischen Entscheidungsträgern geduldet wurden. Den realen alltäglichen Nöten der Bürger wurde unzureichend entgegengesteuert, weil sie machtpolitischen Interessen (von Wirtschaft, Parteien und Verbänden) auf dem Altar der jeweiligen Klientelpolitik geopfert wurden.

GroKo 201327: ein klares und deutliches „Jein!!!“ zum Mindestlohn

Nach der Bundestagswahl verkündete die SPD Medienwirksam den Preis eines etwaigen Koalitionsvertrags mit der Union: „8,50 Euro für alle“.

In den Koalitionsverhandlungen bewegte sich die Union in dieser Frage tatsächlich auf die SPD zu – ein leichtes Opfer, denn der grundsätzliche Widerstand der Union gegen den Mindestlohn wurde schon 2012 endgültig aufgegeben28 und mit dem Abschied der FDP aus dem Bundestag hatten sich in dieser Frage politische Spielräume nach links für die Union ergeben.

Doch wenn es ganz nach der Meinung des Kanzleramts gegangen wäre, hat die sakrosankte Konjunktur aller höchsten Priorität und diese würde sich mit einem gesetzlichen, branchenübergreifenden und einheitlichen Mindestlohn nicht vertragen. Deshalb sollten, so Angela Merkel im Wahlkampf29 – wenn überhaupt – lediglich Lohnuntergrenzen nach Branchen und kein gesetzlicher bundesweiter Mindestlohn eingeführt werden. Deswegen sollte, wenn eine Einführung schon unumgänglich ist diese nicht sofort, sondern so spät wie möglich angestrebt, wodurch die Auswirkung des im Koalitionsvertrag vereinbarten Mindestlohns sich inflationsbedingt sehr spürbar – aber politisch gesichtswahrend – verringern lässt. Die SPD und die Grünen hatten im Wahlkampf eine Einführung des Mindestlohns ohne Ausnahmen oder Abschlägen für Februar 2014 angekündigt30.

Der zwischen CDU, CSU und SPD letztendlich vereinbarte Koalitionsvertrag31 für die 18. Legislaturperiode trägt den schönen Titel „Deutschlands Zukunft gestalten“ und auf Seite 68 wird tatsächlich erläutert, wie die ausgehandelte Einführung eines Mindestlohns angedacht ist:

Zum 1. Januar 2015 wird ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro brutto je Zeitstunde für das ganze Bundesgebiet gesetzlich eingeführt“.

Aber zum 1. Januar 2015 wird nicht jeder Arbeiter in der Bundesrepublik in den Genuss dieser finanziellen Absicherung kommen dürfen, denn „Abweichungen (…) bis 31. Dezember 2016 durch Tarifverträge repräsentativer Tarifpartner auf Branchenebene“ sind weiterhin möglich. Konkret heißt es, dass die niedrigeren Tarife, soweit sie für rechtsgültig erachtet werden, weiterhin gelten.

Also erst ab „1. Januar 2017 gilt das bundesweite gesetzliche Mindestlohnniveau uneingeschränkt“ und erst „mit Wirkung zum 1. Januar 2018 [wird der Mindestlohn] von einer Kommission der Tarifpartner überprüft [und] gegebenenfalls angepasst“.

Es klang schon nicht mehr nach einem wirklich mutigen und zukunftsweisenden Schritt.

Die Forderung nach einem Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro wurde vom DGB nämlich schon 2010 gestellt32. Das zum 1. Januar 2017, sieben Jahre nach Forderungsstellung, die im Koalitionsvertrag angedachte Höhe des Mindestlohns die Menschen aus der Armut nicht befreien wird, steht außer Frage. In der Zwischenzeit müssen Millionen Menschen mit eigentlich unauskömmlichen Löhnen und Tarifverträgen doch irgendwie auskommen, wie man es aus einem Artikel des Tagesspiegels entnehmen kann:

Die Tarifexperten der gewerkschaftseigenen Hans-Böckler-Stiftung haben ermittelt, dass im vergangenen Jahr in elf Prozent von 4.700 Vergütungsgruppen aus 41 Branchen mit insgesamt 16 Millionen Beschäftigten Stundenlöhne unter 8,50 Euro vereinbart sind. Überproportional vertreten ist der Osten. So gibt es für eine Floristin in Brandenburg nur 4,58 Euro, in der Gastronomie Mecklenburg-Vorpommerns liegt der Stundenlohn bei 6,62 Euro. Im Fleischerhandwerk in Ost-Berlin kommt die unterste Lohngruppe auf 6,09 Euro. Aber auch im Westen gibt es Eingruppierungen unterhalb von 8,50 Euro, etwa für Saisonarbeiter in der baden-württembergischen Landwirtschaft (6,40 Euro) oder für Beschäftigte im schleswig-holsteinischen Einzelhandel (7,50 Euro). Sie alle werden, je nach Laufzeit des Tarifvertrags, demnächst 8,50 Euro bekommen, spätestens im Jahr 2017“33.

Doch schon 2013 in München zum Beispiel, wo die Mieten so hoch sind, muss der Stundenlohn in einem Einzel-Haushalt bei mindestens 9,66 Euro liegen, um auf das Grundsicherungsniveau zu kommen34. In anderen Großstädten, wie Frankfurt am Main, Köln oder Hamburg zeichnet sich eine ähnliche Lage ab. In Berlin sind laut dem DIW die Mieten zwischen 2007 und 2012 im Durchschnitt um 27,6% gestiegen35. Eine etwaige Erhöhung des Stundenlohns soll laut Gesetzentwurf außerdem erst zum 1. Januar 2018, wenn überhaupt, wirksam werden, also acht Jahre nach Forderungsstellung.

Der im Koalitionsvertrag ausgehandelte Mindestlohn ist also im wahrsten Sinne des Wortes nicht viel mehr als eine Mogelpackung: es steht zwar „Mindestlohn“ drauf, aber drin ist in Wahrheit viel weniger als ein „Mindestmaß an Lebensqualität und Sozialteilhabe“. Die Internet-Publikation Portal Sozialpolitik36lieferte im März 2014 eine diesbezüglich einfache und zugleich ernüchternde Erklärung:

Ein Stundenlohn von 8,50 Euro ergibt bei einer durchschnittlichen tariflichen Wochenarbeitszeit von 37,7 Stunden (Vollzeit) ein Monats-Brutto von 1.388 Euro. Bei Steuerklasse I/0 gehen hiervon 352 Euro an Lohnsteuer und Sozialbeiträgen ab – unterm Strich verbleibt also ein Monats-Netto in Höhe von 1.036 Euro.

Dem gegenüber steht der SGB-II-Bedarf von Alleinstehenden. Er setzt sich zusammen aus dem monatlichen Regelbedarf (Stufe 1) von derzeit [2014, A.d.R.] 391 Euro, sowie den Kosten für Unterkunft und Heizung; zu berücksichtigen ist zudem ein Erwerbstätigen-Freibetrag37 von 300 Euro, der nicht auf die Grundsicherung angerechnet wird.

Zieht man vom Nettolohn (1.036 Euro) den Regelbedarf (391 Euro) sowie den Erwerbstätigenfreibetrag (300 Euro) ab, so verbleibt ein Rest von 345 Euro. Diese 345 Euro stecken den Spielraum ab für die Kosten der Unterkunft und Heizung: Liegen die Wohnkosten oberhalb von 345 Euro, so können Alleinstehende die »Hartz-IV«-Abhängigkeit mit einem Mindestlohn von 8,50 Euro nicht überwinden. Sie hätten trotz Vollzeitjob weiterhin Anspruch auf aufstockende Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende.

Dass es sich hierbei keineswegs um eine kleine Personengruppe handelt zeigen die BA-Zahlen: Bei vier von zehn alleinstehenden Grundsicherungs-Empfängern, das waren rund 740.000 Bedarfsgemeinschaften (BGs), lagen die tatsächlichen KdU [Kosten der Unterkunft, A.d.R.] im Juli 2013 oberhalb von 345 Euro – in den alten Bundesländern, einschließlich Berlin, sogar bei fast jedem Zweiten“38.

Dass der angedachte Mindestlohn von 8,50 Euro in vielen Fällen zu knapp bemessen sein dürfte, wurde natürlich längst erkannt, so forderte der Ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske auf dem Bundeskongress der Gewerkschaft schon 2011 einen Mindestlohn „beginnend mit 8,50 Euro und dann ziemlich flott ansteigend auf 10 Euro“39. Folglich stellte die Linke in Februar 2014 einen Antrag im Bundestag auf Einführung eines Mindestlohns in Höhe von 10 Euro40.

Nichts desto trotz kochen beim Thema Mindestlohn à 8,50 Euro im Sommer 2014 weiterhin die Gemüter der Wirtschaftsvertreter hoch und die Propagandaschlacht scheint nach zehn Jahren des Schlagabtausches kein Ende nehmen zu wollen. (Was übrigens auch für andere Bereiche von Arbeitsschutzgesetzen gilt; einen Überblick gibt die Homepage vom Berufsverband der Rechtsjournalisten – d. Red.)

So glaubt das Münchener Instituts für Wirtschaftsforschung (ifo) unter Leitung von Hans-Werner Sinn noch im Juni 2014 wissen zu wollen, dass mit der Einführung des angedachten Mindestlohns von 8,50 Euro bis zu 900.000 Jobs abgebaut werden könnten, da jede zehnte Firma laut einer von der ifo geführten Umfrage Jobs streichen würde. Die Befürchtungen kann man aus einem Artikel41 der Zeitschrift Focus entnehmen, der vor den „dramatischen Folgen, die der Mindestlohn für die Beschäftigten haben könnte“ glaubt warnen zu müssen.

Bei solchen düsteren und weitestgehen unbelegten Prophezeiungen, kann man sich kaum des Eindrucks erwehren, dass es den Meinungsmachern nicht um die Auslotung von vernünftigen Lösungen für die deutsche Gesellschaft insgesamt geht, sondern darum Grabenkämpfe im Namen von Interessengruppen bis zum letztmöglichen Zeitpunkt zu führen.

Ende von Teil 1 von 4.

Fortsetzung folgt.

1 Laurent Joachim schreibt für das Buch von work-watch „Die Lastenträger“ und publiziert demnächst das Buch „Wie Hungerlöhne unsere Gesellschaft zerstören“, aus dem diese Beiträge entnommen sind.

2 CDU/CSU-Union: 41,5%; SPD:25,7%; Linke 8,6%; Grüne 8,4%; FDP:4,8%; AfD:4,7%, Piraten 2,2%, NPD:1,3%

3Ohne Nennung seiner Funktion: „Prof. Dr. Thomas Straubhaar ist Direktor und Sprecher der Geschäftsführung des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI)“; „Das HWWI ist privat finanziert. Es ist unabhängig und den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft verpflichtet“, kann man von der Internet-Seite des Instituts entnehmen. vgl. www.hwwi.org, Rubriken „Leitbild“ und „Team“, abgerufen am 23.06.2014.

10 Im Laufe der Dekade erfuhren die Hartz-Gesetze konsequenterweise etwa 60 Anpassungsänderungen.

15 Von 2002 bis 2005.

16 Lediglich in der Baubranche erkannte Clement Korrekturbedarf, denn dort gäbe es „einen Druck der Illegalität“ vgl. Grünen-Chef Reinhard Bütikofer in Reform-Eifer: Clement und Müntefering streiten über Mindestlohn, Der Spiegel, 23.08.2004

21 Kabinett Merkel I

27 Großkoalition aus CDU, CSU, SPD

36 www.portal-sozialpolitik.de

37 Der Erwerbstätigenfreibetrag von 300 Euro gilt ab 1.200 Euro selbst erwirtschaftetem Einkommen. Auf dem ALG-II/Hartz-IV-Regelsatz gilt ein Erwerbstätigenfreibetrag von 100 Euro in voller Höhe, dann greift eine progressive Anrechnungspflicht für zusätzlich erzieltes Einkommen während der Bezugsdauer.