3. Juli 2014

Mindestlohn: Was bin ich – und wenn ja wie viele? Eine sozio-politische Zeitreise durch die deutsche Mindestlohn-Geschichte von Laurent Joachim1

Teil 3 von 4 – Mindestlohn für alle? Wer erarbeitet denn dann das ganze Geld?

Eine Regierung muss sich natürlich ihrer Verantwortung gegenüber allen Wirtschaftsakteuren bewusst sein, besonders in einem Land, das eine Exportquote von 41,5% aufweist1 und in dem fast ein Viertel aller Arbeitsplätze vom Export abhängig ist2. Deshalb darf die Frage keinesfalls ignoriert werden, ob die Einführung eines flächendeckend und gesetzlich verankerten Mindestlohns die Wirtschaft des Landes in eine Rezession führen oder ihr gar dauerhaft schädlich sein könnte.

Guido Westerwelle3 (FDP):

Mindestlohn ist DDR pur, ohne Mauer“4 (2007).

Angela Merkel5 (CDU):

Mit der Union wird es flächendeckende gesetzliche Mindestlöhne nicht geben“6 (2007).

Hans-Werner Sinn (ifo-Chef):

Dass man von seiner Hände Arbeit leben können muss, ist einer der dümmsten Sprüche des Jahres“7 (2008).

Probieren geht über Studieren

Das arbeitgebernahe8Institut der deutschen Wirtschaft(IW) in Köln leugnet nicht, dass Probleme in dem Niedriglohnsektor vorhanden sind, vertritt aber folgende Ansicht: „Das Phänomen der Working Poor9 beschränkt sich auf Teilzeitkräfte und Minijobber“10.

Nach Angaben des Instituts hingen 2011 nämlich vor allem Auszubildende (40.000), sozialversicherungspflichtige Teilzeitkräfte (240.000) und Minijobber (500.000) am staatlichen Tropf. So läge laut dem IW-Arbeitsmarktexperten Holger Schäfer die Lösung darin, dass mehr gearbeitet werden müsste: „Um die soziale Grundsicherung zu gewährleisten, ist der Mindestlohn ein ungeeignetes Instrument, denn er legt nur einen minimalen Stundenlohn fest. Die meisten Menschen sind aber nicht arm, weil sie zu geringe Stundenlöhne haben, sondern weil sie zu wenige Stunden arbeiten. (…) Eine Verbesserung ergibt sich letztlich nur, wenn mehr Stunden gearbeitet werden. Ob die Betreffenden das wollen, bezweifle ich“11 gibt er in einem Interview zu Protokoll.

An dieser Stelle denken wir mit der nötigen Empathie und dem angebrachten Mitleid an die Leipziger Floristin, die sich auf ein tariflich gesichertes Entgelt von 4,35 Euro pro Stunde erfreuen darf. Wobei, so viel Empathie darf auch nicht sein, denn etwas davon muss auch für ihre Freundin übrig bleiben, die sächsische Friseurin, die mit 3,06 Euro Tariflohn auskommen muss12 (das ist 30% weniger als bei der Floristin).

Nimmt man an, dass diese Floristin, nennen wir Sie zum Beispiel Frau Kasner, den Ratschlag des Ökonomen beherzigt, und vermutet man einen übertariflichen Verdienst (+15%) von 4,50 Euro pro Stunde gepaart mit einem eisernen Willen Frau Kasners, sich den durchschnittlichen deutschen Brutto-Monatsverdienst13 von 3.391 Euro erarbeiten zu wollen, so müsste unsere, mittlerweile schon lieb gewordene, Ost-Floristin ganze 754 Stunden im Monat in ihrem Blumenladen schuften. Am 31. eines Monats dürfte sie sich in unserem Beispiel ausruhen, aber sonst arbeitet sie das ganze Jahr durch jeden der 30 Tage des Monats – und zwar etwas länger als 25 Stunden. Dann geht die Rechnung des Ökonomen auf. Wir erinnern uns aber: die Sonnentage haben – auch für Frau Kasner, unsere diensteifrige und aufstiegswillige Floristin, nur 24 Stunden – Problem.

Dennoch ist Mehrarbeit im Niedriglohnbereich keine Ausnahmeerscheinung, ganz im Gegenteil. Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) nehmen Vollzeitbeschäftigte „angesichts der spärlichen Stundenlöhne lange Arbeitszeiten in Kauf, um überhaupt auf einigermaßen auskömmliches Entgelt zu kommen. Die Vollzeitbeschäftigten im Niedriglohnsektor arbeiten im Schnitt fast 45 Stunden, ein Viertel sogar 50 Wochenstunden und mehr“14.

Es muss an den Platz in den Geschichtsbüchern gedacht werden

Der prominenteste und seit Jahren verbissenste Gegner eines gesetzlichen Mindestlohns ist sicherlich Hans-Werner Sinn, der Chef des Münchener Instituts für Wirtschaftsforschung (ifo). Laut eigener Darstellung ist das ifo „ein eingetragener gemeinnütziger Verein. Er zählt 386 Mitglieder [2012 A.d.R.], vor allem Unternehmen aus Industrie, Bauwirtschaft und Handel, Banken und Versicherungen, Wirtschaftsverbände sowie Industrie und Handelskammern“15. Von 2000 bis 2010 bekleidete Herr Sinn auch den Posten des Aufsichtsrats der HypoVereinsbank16.

Hans-Werner Sinn galt bis 2013 als der einflussreichste Ökonom Deutschlands17, hüpft von einer Fernseh-Talk-Show zur anderen und wurde von der Bild Zeitung sogar als „Klügster Professor der Republik“18 hochgefeiert. Eine jedoch kontroverse Persönlichkeit: der Spiegel widmete ihm 2012 einen Artikel mit der wenig schmeichelhaften Überschrift „Prof. Propaganda“, und der Tages-Anzeiger aus der Schweiz kritisierte ihn im Rückblick auf seine bisherigen Prognosen und Publikationen im gleichen Jahr gar als „Rattenfänger“19 .

Schon 2005 meinte Hans-Werner Sinn in einem Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung20, dass „Sozialhilfe oder das Arbeitslosengeld II (…) eine Lohnuntergrenze für das Tarifsystem [bilden würde]“, somit ließe „die Lohnkonkurrenz des Sozialstaats (…) Geringqualifizierten keine Chance, für weniger Lohn eine Arbeit zu finden“. Hans-Werner Sinn führte fort: „Wenn die Lohnuntergrenze niedriger liegt, dann werden die Leute bereit sein, zu niedrigeren Löhnen zu arbeiten, und zu niedrigeren Löhnen gibt es Jobs“, deshalb sei laut Hans-Werner Sinn der ALG-II-Regelsatz für nicht Beschäftigte um ein Drittel zu kürzen, um die staatliche Lohnkonkurrenz auszuschalten, denn so Hans-Werner Sinn: „Es gibt keine Möglichkeit, Beschäftigung für Geringqualifizierte zu schaffen, ohne dass es Lohnkostensenkungen gibt und ohne dass auch die heute noch beschäftigten Geringqualifizierten billiger werden“.

Einige Jahre später, im Jahr 2011, war Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hans-Werner Sinn (so seine Visitenkarte auf der Internetseite der Münchener Universität) sogar so sehr über eine etwaige Verteuerung der Arbeitsstunde im Niedriglohnsektor beunruhigt, dass er sich dazu unbedingt genötigt sah, der Frau Bundeskanzlerin einen offenen und sehr eindeutigen Warnbrief zu schreiben21.

In diesem Brief mahnte er die Frau Bundeskanzlerin, sie möge bei der Erwägung eine Lohnuntergrenze einzuführen bitte doch „bedenken (…), dass es nicht nur um Wählerstimmen geht. Man braucht auch seinen Platz in den Geschichtsbüchern“, denn „Die Wirtschaftshistoriker, die später urteilen, lassen sich nicht von Wahlerfolgen blenden“, deshalb möge die Frau Bundeskanzlerin, so Hans-Werner Sinn weiter, „aufpassen, dass [sie nicht] (…) als Kanzlerin in die Geschichte eingeh[t], die Deutschlands Wohlstand verspielt hat“, und dass „die Union auch noch einen Mindestlohn durchsetzt, der volkswirtschaftlich schädlich ist“; außerdem, „dass jeder von seiner Hände Arbeit leben können muss“ sei laut Hans-Werner Sinn grundsätzlich „dumm“22.

Demnach sei ein Mindestlohn – trotz all der in diesem Artikel schon beschriebenen menschenverachtenden Missbrauchsfälle – laut unerbetener professoraler Bekundung an die Welt völlig sinnlos.

In einem Kommentar von 2012 in der Berliner Zeitung bemerkte Tom Schimmeck: „Die Krawallbotschaften des Wirtschaftspropheten Hans-Werner Sinn haben meistens nicht viel Bezug zur Realität“23. Das erleichtert. Fast hätte man vor so viel Unsinn richtig Angst gehabt!

Unser Platz in der Welt

Kaum ein Mythos hält sich hartnäckiger: menschenwürdige Löhne würden das sofortige und bittere Ende der Exporterfolge deutscher Firmen einläuten.

Tatsache ist aber, dass der Faktor Arbeit in vielen Branchen heute mit der umfassenden Industrialisierung oft einen nur unwesentlichen Anteil am gesamten Produkt darstellt.

Stahlarbeiter verdienten 2010 im Schnitt um die 2.600 Euro brutto pro Monat, also in etwa das Doppelte des zurzeit geforderten Mindestlohns. Der Anteil der Lohnkosten an den Produktionskosten für eine Tonne Stahl liegt aber bei lediglich 9%. Dann spielt es gar keine Rolle auf den Weltmärkten, wenn die deutschen Stahlarbeiter etwa im Jahr 2010 ca. 3,6% mehr Lohn erhalten, denn es ist eine Verteuerung von 3,6% (zzgl. Nebenkosten) auf lediglich 9% des Endproduktpreises24 und somit eine kaum spürbare Verteuerung des Gesamtprodukts von etwa 0,33%.

Höhere Löhne für gut qualifiziertes Personal können außerdem dank herausragender Ingenieursleistung und ausgeklügelter Fertigungstechnik vielfach kompensiert werden.

Der Volkswagen Golf ist zur Veranschaulichung dieser Produktivitätsoptimierung ein gutes Beispiel. Während noch 50 Arbeitsstunden zur Produktion eines Golfs V am Anfang des Produktionszeitraums dieser Modellreihe (2003) benötigt wurden, konnte die Bauzeit bis zum Ablauf der Reihe (2008) auf 37 Stunden gedrückt werden25. Der Optimierungsgedanke für den Volkswagen Golf VI ging noch einen Schritt weiter und ermöglichte eine Produktionskostensenkung von weiteren 1.000 Euro bzw. eine Produktivitätssteigerung von fast 20% pro Fahrzeug26. Auch beim seit 2012 gebauten Golf VII konnte Volkswagen 1.500 Euro pro Auto gegenüber dem Vorgängermodell einsparen27. Die „Golf-Geburt“ ist somit, laut den Wolfsburger Nachrichten, heute in nur noch 25 Stunden möglich, was eine Produktivitätssteigerung von 200% innerhalb von 10 Jahren bedeutet, und die Produktionszeit eines Golfs soll sich in den kommenden fünf Jahren weiter um 26% verkürzen28. Auch wenn die hohen Investitionskosten, die diese Produktionszugewinne ermöglichen mit einberechnet werden, übersteigt die Steigerung der Arbeitsproduktivität die Steigerung der Lohnkosten bei Weitem.

Auch in personalintensiven Betrieben ist eine Erhöhung der Löhne nicht unbedingt von so herausragender Bedeutung für den Endverbraucher, dass diese Erhöhung einen etwaigen Kauf unwahrscheinlicher machen würde.

Beispiel: Spargel. „Auf den 14 Höfen des Beelitzer Spargelreviers [in Brandenburg] gibt es [2005] etwa 60 Dauerarbeitsplätze, dazu kommen die Saisonarbeiter: 2.500 Polen, 300 Deutsche“29. Jährlich kommen etwa 270.000 ausländische Erntehelfer als Saisonarbeiter nach Deutschland30.

Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung konnte man Mitte Juni 2014 folgende Warnung entnehmen: „Der Deutsche Bauernverband schlägt Spargel-Alarm – wegen des Mindestlohns für Saisonarbeiter in der Landwirtschaft. Der Verband schätzt, dass Spargel durch die Einführung des Mindestlohns zehn bis dreißig Prozent teurer wird. Der Präsident des Bauernverbands Joachim Rukwied sagte der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung: ‚Wir haben allergrößte Bedenken gegen die Einführung eines Mindestlohns‘“31.

Die Behauptung, dass die Einführung des Mindestlohns die Preise auf der Speisekarte um bis zu 30% klettern lassen könnte, ist schwer nachvollziehbar32. 2013 lag der Kilopreis von Spargeln bei 6,47 Euro. Die Erntehelfer bekommen im Durchschnitt 6,50 Euro die Stunde33. Schlägt man etwa 30% zu, kommt man auf 8,50 Euro die Stunde.

Ein Erntehelfer erntet aber mindestens zwischen 3,5 und 5 Kilo Spargel pro Stunde34, also 4,25 Kilo im Durchschnitt. Die Teuerung von zwei Euro pro Arbeitsstunde muss also durch den Faktor 4,25 dividiert werden. Es ergibt eine theoretische Teuerung von 0,44 Euro pro Kilo Spargel. Auch wenn die Verteuerung der Arbeit eins zu eins weitergegeben werden würde, dann würde das Kilo Spargel maximal 6,91 Euro statt 6,47 Euro kosten. Das ist eine Teuerungsrate von 8%, und dieser Wert dürfte real noch niedriger ausfallen, weil der Faktor Arbeit nur 60 bis 80% des Spargelpreises ausmacht. Jedenfalls ist es unwahrscheinlich, dass Spargelliebhaber sich den Gaumengenuss wegen einer Teuerung von 22 Cent pro Pfund verderben lassen. Es ist demnach auch sehr unwahrscheinlich, dass, wie vom Präsident des Bauernverbands Joachim Rukwied behauptet, eine Massenverlegung der Spargelproduktion ins Ausland bevorstünde, wenn den Bauern keine Ausnahmeregelung beim Mindestlohn genehmigt wird35.

Lohndrückerei ist nicht alternativlos. Alternative Lösungen werden in einigen Betrieben bewusst angestrebt und zeigen sich dort auch recht erfolgreich.

Obwohl die Textilbranche in Deutschland oft als nicht mehr konkurrenzfähig im Vergleich zu den Billigimporten aus Fernost gilt, können ethisch geführte Unternehmen wie Trigema36 oder Manomama37 sich erfolgreich zum Standort Deutschland und zur sozialen Verantwortung gegenüber ihrem Personal sowie der Gesellschaft bekennen. Wenngleich in beiden Fällen die Entlohnung der Angestellten knapp bemessen ist, liegt sie über dem geplanten Mindestlohn: bei Manomama (ca. 120 Angestellte) gibt es einen Einheitslohn38 von 10 Euro pro Stunde und bei Trigema (ca. 1000 Angestellte) liegt die Mindestvergütung bei 8,50 Euro, allerdings mit Steigerungsmöglichkeit39. Der Inhaber von Trigema Wolfgang Grupp erklärte in einer lokalen Zeitung seinen Erfolg durch bessere Marktanpassung: „Dem Chinesen kann ich nicht in der Stückzahl Konkurrenz machen. Unsere Stärken sind die Flexibilität und die Innovation“40.

Wer behauptet gerechte(-re) Löhne würden den Export generell negativ beeinträchtigen verkennt also die Realität.

Der deutsche Handelsüberschuss liegt tatsächlich bei ca. 188,3 Milliarden Euro (2012). Deutschland41 (82 Millionen Einwohner) exportiert (2012) mit 1,1 Billionen Euro Warenwert demnach immer noch fast genau so viel wie China (1.330 Millionen Einwohner), dessen Exportvolumen laut WTO bei 1,51 Billionen Euro (2,04 Billionen Dollar) liegt.

Dabei ist zu beachten, dass die Durchschnittslöhne in den chinesischen Fabriken teilweise weit unter einem Euro pro Stunde liegen. In Shenzhen lag der monatliche Mindestlohn 2010 zum Beispiel bei lediglich 900 Yuan (110 Euro)42. Es dürfte unstrittig sein, dass die deutsche Gesellschaft bzw. der deutsche Staat in der heutigen Form nicht in der Lage sind, auf diesem Niveau zu konkurrieren. Die Konkurrenzfähigkeit Deutschlands muss schon deswegen auf andere Gebiete verlagert und sichergestellt werden.

Doch auch in China formiert sich Widerstand gegen Hungerlöhne, sodass auch dort die Löhne steigen. Foxconn, der in China produzierende taiwanische Auftragshersteller von vielen elektronischen „Life-Style“-Geräten der westlichen Weltkonzerne wie Apple iPad, iPhone und iPod, Sony Playstation, Amazon Kindle etc., hat die Löhne seiner Angestellten (insgesamt arbeiten 1,23 Millionen Menschen für Foxconn) über mehrere Erhöhungsrunden zwischen 2009 und 2012, je nach Qualifikation, auf 1.800 bis 2.200 Yuan (220 bis 260 Euro) mehr als verdoppelt43… und das ist gar kein betriebswirtschaftliches Problem für Foxconn oder die Käufer in Deutschland, denn die Arbeitskosten, die zum Beispiel in einem iPhone stecken, betragen laut Foxconn selbst nur rund drei Prozent: das sind umgerechnet 15 Euro bei einem Gerät, das 2011 in Deutschland für ca. 500 Euro44 verkauft wurde45. Die Fertigungskosten und somit die Löhne so niedrig wie möglich zu halten ist deshalb in erster Linie ein betriebswirtschaftliches Kalkül von Apple, damit der Gewinn pro Gerät geschätzte 60% erreichen kann46. Damit ist der Gewinnanteil bei einem iPhone zwanzigfach höher als der Lohnkostenanteil.

Foxconn plant indes den nächsten und logischen Rationalisierungsschritt in der Unternehmensentwicklung: durch den geplanten Einsatz von bis zu einer Million Fertigungsroboter in den nächsten Jahren (heute sind lediglich 10.000 Roboter bei Foxconn im Einsatz) soll auf die Hälfte der Belegschaft verzichtet werden47. Somit ist es illusorisch zu glauben, dass die Repositionierung Chinas auf den Weltmärkten entsprechend der Bevölkerungsstärke und dem relativen Entwicklungsstand des Landes durch restriktive Lohnpolitik in der Bundesrepublik begegnet werden könnte.

Wenngleich bestimmte Branchen der deutschen Industrie tatsächlich unter der Niedriglohnkonkurrenz aus Fernost leiden, dürfte die direkte Kausalität zwischen der Auszahlung von fairen Löhnen hierzulande und die generelle Gefährdung des Exports, gelinde gesagt, stark übertrieben sein, zumal bessere Löhne in der Regel eine wesentlich bessere Bildung der Bevölkerung ermöglichen, welche sich in besser qualifizierten und somit spürbar produktiveren Mitarbeitern für die Wirtschaft niederschlägt.

Im europäischen Vergleich liegen, laut einer Studie48 des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung, diedeutschen Löhne insgesamt ungefähr im Mittelfeld: „Deutschland liegt bei den Arbeitskosten für die Privatwirtschaft weiterhin im Mittelfeld der alten EU-2011 mit 30,10 Euro pro Arbeitsstunde an siebter Stelle unter den EU-Ländern. Das ist die gleiche Position wie 2010. Höhere Arbeitskosten weisen wichtige Handelspartner wie die Niederlande, Frankreich, Schweden und Belgien auf. (…). Belgien hatte [2011] (…) mit 39,30 Euro pro Stunde die höchsten Arbeitskosten in Europa. In den Krisenländern Irland, Italien, Spanien, Griechenland und Portugal reichen sie von 26,80 bis 12 Euro pro Stunde“.

Gustav A. Horn, der Wissenschaftliche Direktor des IMKs bestätigt diese Sachlage: das, „was wir an vielen Parametern ablesen können: Deutschland ist ein Land mit hervorragender internationaler Wettbewerbsfähigkeit“49.

In den neuen EU-Ländern im Osten sind die Lohnkosten naturgemäß am niedrigsten. „In der Tschechischen Republik, Ungarn und Polen liegen die Stundenwerte zwischen 10,60 und 7,10 Euro. Schlusslicht ist Bulgarien mit Arbeitskosten von 3,50 Euro pro Stunde“, so die Studie weiter.

Diese Studie ergänzt eine Datenanalyse50 des IMK von 2006, womit nachgewiesen wurde, dass „deutsche Löhne im EU-Vergleich bisher systematisch überschätzt“ wurden. Die Studie stellte nämlich fest:Deutschland liegt im Jahr 2004 mit Arbeitskosten im privaten Sektor von 26,22 Euro die Stunde im Mittelfeld der EU-15-Länder“, denn „Auf Basis neuer, vergleichbarer Daten für die EU-Staaten (…) kann die These [widerlegt werden], die deutschen Löhne seien zu hoch. Im Gegenteil: Im privaten Dienstleistungssektor sind sie im europäischen Vergleich sogar sehr niedrig“.

Seitdem hat Deutschland diesen Vorsprung sogar weiteraufgebaut. Besonders Frankreich und Italien haben in den letzten 10 Jahren sehr erhebliche Produktivitätseinbußen gegenüber Deutschland zu verzeichnen gehabt51. In vielen Bereichen war die Lohnzurückhaltung in Deutschland erstens ausgesprochen umfassend und zweitens wurde die Lohnentwicklung weitestgehend von der Produktivitätserhöhung entkoppelt. Der Ökonom Heiner Flassbeck beschrieb in einem Interview mit den VDI-Nachrichten 2013 die Situation wie folgt:

Um es klar zu sagen, die Probleme unseres Nachbarn [Frankreich A.d.R.] sind in erster Linie auf die Lohnzurückhaltung Deutschlands zurückzuführen. Die Produktivität bei unseren Nachbarn ist nicht schlechter. Die wichtige Regel für eine Währungsunion ist, dass sich jeder an die eigene Produktivität anzupassen hat, nicht an die Produktivität der anderen Länder – auch nicht an die Produktivität Deutschlands. Der Vorsprung Deutschlands war eindeutig die Folge der Lohnzurückhaltung, nicht höherer Produktivität. (…) In Deutschland müssen die Löhne in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren viel stärker steigen, wenn Europa nicht in eine deflationäre Falle laufen soll. (…) [Sonst] wird die Rezession sich verschärfen. Es ist [dann] nur eine Frage der Zeit, wann die Leute auf die Straße gehen“ 52.

Die volkswirtschaftliche Antwort auf diesen Leistungsunterschied wäre vor der Einführung der gemeinsamen Währung vermutlich eine Devaluation der französischen oder italienischen Währung gegenüber der deutschen Währung gewesen, denn „Jeder Staat braucht die Währung, die seine eigene Leistungsfähigkeit entspricht“53, weil „sobald eine Währung die Leistungsfähigkeit nicht mehr entspricht, kommt es sofort zu Verschiebungen der Warenströme“54, wie der Finanzmarkt-Experte Dirk Müller es 2011 erklärte.

Die politische Entscheidung eine Devaluation herbeizuführen, ist in einem System mit einer gemeinsamen Währung jedoch nicht möglich. Insofern ist die Euro-Bindung zurzeit ein weiterer Wettbewerbsvorteil für die deutsche Wirtschaft gegenüber Konkurrenten im Euro-Raum mit niedrigerer Produktivität oder höheren Löhnen in der Industrie55.

Zur Ergänzung sei gesagt, dass in den meisten europäischen Ländern gesetzlich festgelegte Mindestlöhne gelten, wenngleich in sehr unterschiedlicher Höhe, sodass der wirtschaftliche Unterbietungskampf in diesen Ländern – im Gegensatz zur Bundesrepublik – seit vielen Jahren entschärft wurde.

2013 liegt in Frankreich der schon 1950 eingeführte Mindestlohn bei 9,43 Euro pro Stunde; in Belgien sind es 9,10 Euro; in Großbritannien 7,63 Euro, in Spanien 3,91 Euro, in Griechenland 3,35 Euro, in Polen 2,21 Euro und in den Baltischen Staaten zwischen 1,71 und 1,90 Euro. Mit lediglich 0,95 Euro die Stunde ist in Bulgarien der niedrigste gesetzliche Mindestlohn der EU zu verzeichnen56. Auch in den USA gibt es übrigens einen nationalen verbindlichen Mindestlohn, der zurzeit bei 7,25 Dollar (etwa 5,30 Euro) pro Stunde (jeweils Brutto) liegt.

Im Niedriglohnbereich ist der Verdienstunterschied zwischen Deutschland und Frankreich tatsächlich wirklich frappierend, insbesondere wenn man von einer ungefähr gleichen Besteuerung und von ähnlich hohen Lebenshaltungskosten ausgeht.

Zum Beispiel im Friseurhandwerk. Jetzt, dass Uschi, unsere ostdeutsche Friseurin, Glück hat und unter den Rettungsschirm des neuen Tarifvertrags vom 01. August 2013 schlüpfen darf, bekommt sie mindestens 6,50 Euro Brutto pro Stunde und ab 01. August 2014 sind es 7,50. Ab dem 01. August 2015 sind 8,50 für Ost und West vereinbart.

Der zwischen Ver.di und den Arbeitgeber-Vertretern verhandelte Mindestlohn-Tarifvertrag wurde aufgrund seiner Reichweite am 13. Dezember 2013 vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (rückwirkend zum 01. November 2013) nämlich für allgemeinverbindlich erklärt57, so dass er jetzt für alle Betriebe gilt ungeachtet dessen, ob sie Tarifgebunden sind oder nicht.

In den Jahren davor, hatte Uschi grundsätzlich weniger Glück, besonders, wenn sie in einem Minisalon in Kleinstkleckersdorf Ost arbeiten musste, denn dann hat sie vielleicht 3,50 oder 4,50 Euro die Stunde bekommen – und Hartz-IV-trotz-Vollzeitstelle oben drauf.

Ihre französische Kollegin Marianne konnte bis vor kurzen für solche Verhältnisse dagegen nur ein müdes Lächeln haben, weil ihr 9,43 Euro vom Staat garantiert sind, egal wo sie in Frankreich arbeitet. Am Ende eines Monats (mit zum Beispiel 170 Arbeitsstunden58) sind es erhebliche Verdienstunterschiede: bei 3,50 Euro pro Stunde kommen 595 Euro zusammen, bei 6,50 Euro sind es 1.105 Euro, bei 8,50 Euro sind es schon 1.445 Euro pro Monat aber bei 9,43 Euro kommen 1.603 Euro zusammen – für genau die gleiche Arbeit und genau die gleiche Ausbildung.

Marianne, die „Mindestlohn-Französin“, verdiente bis Ende 2013 also ziemlich genau dreimal besser als Uschi, ihre Freundin aus Sachsen, die bis zu diesem Zeitpunkt einen Tariflohn von 3,06 Euro pro Stunde erhielt. Bemerkenswert ist dabei auch, dass die Niedrigstlöhne in Deutschland über Transferleistungen vom Staat subventioniert werden müssen, während der französische Staat keinerlei Subventionen auszahlt, sondern auf jedem Lohnzettel Steuer einbehalten kann.

Minilöhne sind für den Staat folglich nichts anderes als ein Zuschussgeschäft; für die Unternehmen eine erträgliche Betriebssubvention. Ist das aber für das Allgemeinwohl sinnvoll? Wohl kaum.

Ende von Teil 3 von 4.

Fortsetzung folgt.

1 Vgl. Daten des Statisches Bundesamt

3Damals FTP-Bundesvorsitzender und Vorsitzender der Bundestagsfraktion in der Opposition im Bundestag.

5 Damals Bundesvorsitzende der CDU und seit 2005 Bundeskanzlerin innerhalb einer großen Koalition aus CDU, CSU und FDP zwischen November 2005 und Oktober 2009 (Regierung Merkel I).

8Nach eigener Darstellung, wird das Institut mit Sitz in Köln von Verbänden und Unternehmen der privaten Wirtschaft getragen. Vgl. www.iwkoeln.de Rubriken „Institut“ und „Leitbild“, abgerufen am 24.06.2014

9 Zu Deutsch: Arm trotz Arbeit.

36 Vgl. www.trigema.de

37 Vgl. www.manomama.de

38 Eine Chance für Jede, Thomas Horsmann, Vorwärts, 10.07.2013

44 Die aktuelleste Generation (iPhone 5s) kostet in Deutschland 2014 um die 600 Euro.

51 Im September 2013 sprach sich der französische Premier Jean-Marc Ayrault sehr deutlich für eine europäische Regelung aus, um der „Konkurrenzverzerrung“ innerhalb der EU entgegenzuwirken, in: À Strasbourg, Jean-Marc Ayrault milite pour un SMIC européen, L’Entreprise, 06.09.2013

53 Vgl. Alfred Schier im Gespräch mit Dirk Müller (Finanzmarktexperte), Sendereihe „Im Dialog“, Phoenix, ausgestrahlt am 21.10. 2011.

54 Vgl. Alfred Schier im Gespräch mit Dirk Müller (Finanzmarktexperte), Sendereihe „Im Dialog“, Phoenix, ausgestrahlt am 21.10. 2011.

55 Vgl. Die Export-Streber – Deutschland im Überschuss, Der Tag, HR2, 11.11.2013

58 In Frankreich gilt seit 2000 per Gesetz in der Regel die 35-Stunden-Woche.