12. Juli 2016

Fielmann: Kranke am Pranger

 

(gk) Im Juni letzten Jahres hatte eine repräsentative Mitarbeiterumfrage zur Arbeitszeitregelung unter den 1000 Beschäftigten des Produktions- und Logistikzentrums Rathenower Optische Werke (ROW) ergeben, dass sich 85 Prozent eine „bessere Unternehmenskultur und ein besseres Führungsverhalten“ wünschen. Diese Umfrage bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der hundertprozentigen Tochter der Fielmann AG war ein wichtiger Auslöser für die Neuverhandlungen der bis Ende letzten Jahres geltenden Betriebsvereinbarung, die u.a. eine wöchentliche Höchstarbeitszeit von 50 Stunden beinhaltete.

 

Vor allem die Beschäftigten der Brillenfertigung, die Bestellungen aus ganz Europa bearbeiten und im vergangenen Jahr 3,5 Millionen Brillen montierten, hatten unter Überstunden und Mehrarbeit zu leiden. Das führte zu einem hohen Krankenstand  in der Abteilung, in der etwa die Hälfte der Belegschaft arbeitet. Deshalb hatten Betriebsrat und Geschäftsführung des Werkes – ohne Tarifbindung und mit zehn Prozent der Beschäftigten, die in der IG Metall organisiert sind – eine neue Betriebsvereinbarung unterzeichnet, die seit Anfang des Jahres in Kraft getreten ist. Sie beschränkt die Überstundenzahl auf die  gesetzlich zulässige Höchstgrenze von 48 Stunden pro Woche und sieht u.a. Mitspracherechte des Betriebsrates vor, wenn einzelne Mitarbeiter zu viele Überstunden angehäuft haben.  (Work-Watch berichtete)

 

Nun ist ein halbes Jahr vergangen und work-watch hat nachgefragt, wie diese Betriebsvereinbarung des „kleineren Übels“, so der IGM-Sekretär Lars Buchholz, sich in den ROW ausgewirkt hat.  Zwar würde in keiner Abteilung mehr länger als 48 Stunden in der Woche gearbeitet – aber nach wie vor würden Überstunden und Mehrarbeit nicht angemessen angekündigt, sondern von der Geschäftsführung und Abteilungsleitung  „auf unbestimmte Zeit“ angeordnet. De facto bedeutet das: Viele Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen müssen bei entsprechender Auftragslage abends länger an der Werkbank sitzen als geplant. Auch Mitarbeiter, die bereits mehr als 40 Überstunden angehäuft hätten, mussten im Juni weiter Mehrarbeit leisten, ohne dass der Betriebsrat gefragt wurde, was nach neuer Betriebsvereinbarung eigentlich verabredet ist.

 

„Die neue ist zwar ein deutlicher Fortschritt gegenüber der alten Betriebsvereinbarung, aber sie sollte auch eingehalten werden“, so Lars Buchholz. Im Juli wären zehn Mitarbeiter bereits in die „rote Phase“ gekommen, d.h. sie haben mehr als 80 Überstunden auf ihrem Konto, sechs Mitarbeiter hätten in diesem Jahr bereits die kritischen „sieben Samstage“ gearbeitet. Der Gewerkschaftssekretär kritisiert auch das Verhalten der Betriebsratsmehrheit und des Betriebsratsvorsitzenden, die sich bei Konflikten oft damit begnügten, den Personalchef im Hause, einen Juristen, zu Rate zu ziehen, anstatt den per Rahmenvertrag zwischen Betriebsrat und Geschäftsführung finanzierten Arbeitnehmeranwalt aus Hamburg zu konsultieren.  Das könnte auch eine Erklärung dafür sein, dass der Geschäftsführer der ROW, Günter Schmid, keine der Fragen von work-watch zu Überstunden und Krankenstand beantwortete, sondern stattdessen darauf hinwies, dass der Verhandlungsführer des Betriebsrates die Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeit als „interessengerecht und ausgewogen würdigte“, weil so den „in der augenoptischen Branche bekannten saisonalen Auftragsspitzen entsprechend begegnet“ werden könne.

 

Der Krankenstand jedenfalls ist nicht “ausgewogen”: In der Brillenfertigung liegt er im Schnitt nach wie  vor bei zehn Prozent und gegen Ende der Arbeitswoche, wenn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erschöpft sind, ist er oft besonders hoch. Im ersten Halbjahr seien schon Höchstwerte von 16 Prozent  erreicht worden.

 

Zusätzliches Personal einzustellen scheint nicht die Priorität der ROW-Geschäftsführung zu sein. Stattdessen wurden bis Juni in jeder Abteilung Schichtpläne ausgehängt, die u.a. die krank gemeldeten Mitarbeiter namentlich aufführten. „Damit werden die Kollegen gegeneinander ausgespielt nach dem Motto: jetzt müssen wir für Dich mitarbeiten“, so Lars Buchholz.  So Zwietracht zwischen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu säen hat offensichtlich Methode: Schon im Januar veröffentlichte Work-Watch ein Photo vom schwarzen Brett bei ROW, in der die Geschäftsführung Überstunden und Mehrarbeit mit dem hohen Krankenstand begründete.  Wer so Ursache und Wirkung verdreht, trägt nachhaltig zur Vergiftung des Betriebsklimas bei.

 

Trotz der harten Arbeitsbedingungen verdient etwa die  Hälfte der Beschäftigten in der Brillenfertigung nur knapp über dem Mindestlohn: 1500 Euro brutto monatlich. Und das bei einer Aktiengesellschaft wie Fielmann, die nach einem Rekordumsatz im Jahr 2014 ingesamt 134 Millionen Euro Dividende an die Aktionäre ausgeschüttet hat.