20. Dezember 2016

Whistleblower im Betrieb

Im Frühsommer 2016 wurde im EU-Parlament über die Richtlinie zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen abgestimmt und sie dann in Kraft gesetzt. Die Richtlinie, in der gemeinsame Maßnahmen gegen den rechtswidrigen Erwerb und die rechtswidrige Nutzung und Offenlegung von Geschäftsgeheimnissen festgelegt sind, soll sicherstellen, dass der Binnenmarkt reibungslos funktioniert. Aus Sicht der US-Regierung ist sie sogar eine wichtige Voraussetzung für das Handelsabkommen TTIP.

Der DGB hatte schon im Vorfeld davor gewarnt, dass so Unternehmen auch Informationen über Missstände in ihren Betrieben zu Geschäftsgeheimnissen erklären können, da sie nun selbst bestimmen dürfen, was ein Geschäftsgeheimnis ist und was nicht.
Whistleblower, die auf die Missstände in den Betrieben berechtigterweise aufmerksam machen, haben nun auch noch den letzten Schutz verloren. In der Regel sind die Hinweisgeber ja Beschäftigte derjenigen Betriebe, in denen die Missstände angeprangert werden. Hinzu kommt noch, dass die Arbeitnehmer nun im vollen Umfang für den durch die Offenlegung von angeblichen Geschäftsgeheimnissen entstandenen wirtschaftlichen Schaden beim Arbeitgeber haftbar gemacht werden können.

Die Richtlinie bedroht nicht nur die Whistleblower, sondern auch die Pressefreiheit in erheblichen Maßen.
Bei der neuen Richtlinie handelt es sich um einen Mindestschutzstandard für Unternehmen. Das heißt, dass die EU-Mitgliedstaaten den Schutz von Geschäftsgeheimnissen in der nationalen Gesetzgebung sogar noch verstärken können.
Es fehlt hier vor allem das Kriterium des objektiven Geheimhaltungsinteresses des Inhabers. Das bedeutet einen großen Rückschritt bei uns, da die deutschen Gerichte bisher stets auf das objektive Geheimhaltungsinteresse abstellen.
Ein Geschäftsgeheimnis kann jede Information sein, also auch die speziellen Fachkenntnisse, die vom Arbeitnehmern im Rahmen des Beschäftigungsverhältnisses erworben wurden. Das hat zur Folge, dass der Arbeitnehmer auf Schadensersatz verklagt werden kann, wenn er seine zuvor erworbenen Fachkenntnisse bei einem neuen Arbeitgeber verwendet. Hierfür sieht die EU-Richtlinie eine Frist von bis zu sechs Jahren vor.

Beschäftigte, die als Whistleblower nach dieser sehr weiten Definition als Geschäftsgeheimnisse geltende Informationen nach außen z.B. an Behörden oder Medien herausgeben, können zunächst in jedem Fall belangt werden. Ihre Verurteilung z.B. auf Schadensersatz können sie nur dann verhindern, wenn sie beweisen, dass sie zur Aufdeckung einer Straftat oder eines Verstoßes gehandelt haben und dieses Handeln zum Schutz des öffentlichen Interesses war. Das sind sehr hohe Anforderungen und die Beweislast liegt voll auf der Seite des Arbeitnehmers oder Whistleblowers.
Für den angeblichen wirtschaftlichen Schaden, der beim Arbeitgeber entstanden ist, können die Arbeitnehmer haftbar gemacht werden. Zwar können die Mitgliedstaaten festlegen, dass die Beschäftigten nur begrenzt haften müssen. Das ist aber eine Kann-Regelung, bei der sich die Mitgliedstaaten auch gegen eine Begrenzung entscheiden können.

Die Richtlinie ist auch ein Problem für die Pressefreiheit. Auch wenn durch eine Kompromissformel berichtende Medien nun besser geschützt werden, sind vor allem Medien, deren Pressestatus ungeklärt ist, nicht ausreichend abgesichert. Das gilt insbesondere für Blogs und Leaking-Plattformen oder Privatpersonen, die über Missstände berichten. Gerade bei der investigativen Berichterstattung braucht man eben jene Quellen, die den Mut haben, ihre Erkenntnisse an die Medien weiterzugeben. Genau diese Quellen sind aber im Fokus der Richtlinie und der Einzelne wird bedroht, noch besser zu überlegen, ob er die bald grenzenlos ausgeweiteten und willkürlich definierten Geschäftsgeheimnisse noch verrät.
Die EU- Richtlinie könnte auch zu einer Verschlechterung der meisten Informationsfreiheitsgesetze (IFG) in der EU nach sich ziehen. In den nationalen Gesetzen wird bisher überall, außer in Deutschland, in Streitfällen bei der Herausgabe von staatlichen Informationen abgewogen, ob das öffentliche Interesse an einer Veröffentlichung oder das wirtschaftliche Interesse von Unternehmen überwiegt. Eine solche Abwägung wird jetzt durch die Richtlinie wegfallen.

Das folgende Beispiel zeigt den Prozess, der in den meisten Fällen von Wistleblowing so im Betrieb abläuft und das es auch ohne EU-Richtlinie ein großes Risiko ist, den eigenen Arbeitgeber zu kritisieren oder gar anzuzeigen, damit Missstände abgestellt werden (wörtlich www.anstageslicht.de):

Wenn ältere Heimbewohner bis nachmittags in ihrem Kot und Urin liegen (müssen), ist das unmenschlich. Wenn Heimleiter die Order ausgeben, in den offiziellen „Pflegeberichten“ dürfe „Personalmangel nicht erwähnt werden. Aber: ‚Alus innerbetrieblichen Gründen sind derzeit nur Teilwaschungen möglich’“ und diese finden definitiv nicht statt, kann man das als Täuschung oder auch Dokumentenfälschung bezeichnen. Auch der „Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) hatte „Qualitätsdefizite in allen Qualitätsbereichen“ festgestellt.
Wenn Unternehmen dafür aber Geld nehmen und aus Seniorenheimen „Profitcenter“ machen wollen, ist das Betrug. Vor allem, wenn sie in so genannten Überlastungsanzeigen darauf aufmerksam gemacht werden, dass vieles nicht mehr geht und eigentlich Abhilfe geschaffen werden müsste. Dieser Meinung jedenfalls war Brigitte Heinisch. Und Betrug ist ein Straftatbestand. Bedeutet: Wenn der eigene Arbeitgeber, in diesem Fall die Berliner Firma „Vivantes – Netzwerk für Gesundheit GmbH“, auf Hinweise und Warnungen einfach nicht reagiert, muss man zum Staatsanwalt. Das gebietet das Gewissen.

Schließlich hatte das Bundesverfassungsgericht höchstrichterlich bereits 2001 entschieden, dass auch Arbeitnehmer ihren Arbeitgeber anzeigen dürfen, wenn strafrechtlich relevante Belange vorliegen (Az: 1 BvR 2049/00). Und dass deswegen Arbeitnehmer nicht mit Kündigung ‚abgestraft’ werden dürfen. Der Anwalt von Brigitte Heinisch macht der Fa. Vivantes klar, dass seine Mandantin andernfalls eine Selbstanzeige machen, also sich selbst anzeigen müsste. Und dass dies ebenfalls staatsanwaltschaftliche Ermittlungen auslösen würde. Und dass dabei eine „nicht genehme öffentliche Diskussion“ über die inakzeptablen Zustände entstehen könne. Der „Gesundheits“-Konzern Vivantes zeigt sich unbeeindruckt. „Der Vorwurf der nicht sichergestellten ausreichenden Pflege … bedeutet eine verleumderische Behauptung … gegenüber ihren Kolleginnen und Kollegen“, heißt es in einem Schreiben an Heinischs Rechtsanwalt.

Jetzt beginnt auch das übliche Spiel: Man beginnt Heinisch zu mobben. Man versucht ihre KollegInnen gegeneinander auszuspielen, verbietet allen, mit ihr zu sprechen oder sie anzurufen. Denn sie ist inzwischen krank:
• die menschenunwürdigen Zustände, die sie alleine nicht verändern kann, die Ignoranz ihres Arbeitgebers gegenüber ihren eindeutigen Überlastungsanzeigen,
• das offenkundige Desinteresse von Vivantes am Wohlergehen der Heimbewohner, der innere Konflikt zwischen einer Selbstanzeige oder Strafanzeige gegen den eigenen Arbeitgeber
schlagen auf ihre Seele und ihren Magen.

Weil der „Gesundheits“-Konzern keinerlei Bereitschaft zeigt, sich mit der Kritik und den Vorwürfen auseinanderzusetzen, erstattet Heinisch über ihren Rechtsanwalt Strafanzeige gegen die Verantwortlichen bei Vivantes. Als die Berliner Staatsanwaltschaft nach einem Monat die Ermittlungen ergebnislos einstellt und „Betrug“ nicht feststellen kann (oder will), ist dies für Vivantes ein willkommener Anlass, die unbequeme Mitarbeiterin loszuwerden. Brigitte Heinisch wird zum 31. März 2005 gekündigt.
Kollegen und Freunde schließen sich zu einem Solidaritätskreis zusammen. Jetzt geht es nicht mehr nur um eine Kündigung, jetzt will man die Öffentlichkeit mobilisieren: über den „alltäglichen Wahnsinn in unseren Pflegeheimen“, konkret den „Wahnsinn zwischen der tagtäglichen Arbeitsüberlastung und daraus folgender physischer und psychischer Erschöpfung“. Jetzt geht es ganz allgemein um eine menschenwürdige Gesundheitsversorgung in Berlin. Und weil der Betriebsrat der Kündigung nicht zustimmt, kündigt Vivantes der engagierten Altenpflegerin vorsorgehalber ein zweites Mal: dieses Mal fristlos. Jetzt werden auch die Medien eingeschaltet. Ein erstes Arbeitsgerichtsurteil geht ersteinmal zu Gunsten Heinischs aus. Die Berufung von Vivantes vor dem Landesarbeitsgericht im März 2006 endet mit dem Gegenteil: Heinisch habe die Vorwürfe „in keiner Weise“ belegen können, dies „stelle eine schwere Loyalitätsverletzung dar“, eine Weiterbeschäftigung sei ihrem Arbeitgeber „nicht zuzumuten“. Und: eine Berufung vor dem Bundesarbeitsgericht werde nicht zugelassen.

Nur 4 Wochen später checkt der MDK das Pflegeheim erneut und dokumentiert „teilweise gravierende Mängel“, spricht von „psycho-sozialer Unterversorgung“. Kurz darauf beschäftigt sich das TV-Magazin „Report Mainz“ mit dem Fall und macht das Thema Altenpflege bundesweit bekannt. Und: Der Journalist veröffentlicht zusammen mit einem bekannten Experten ein Buch („Im Netz der Pflegemafia“): Jetzt ist das Problem in die Wahrnehmung aller gerückt. Auch mit Heinischs Buch, das 2008 erscheint: „Satt und Sauber?“
Eine Nichtzulassungsbeschwerde vor dem Bundesarbeitsgericht von Brigitte Heinisch vor dem Bundesverfassungsgericht wird 2007 abgewiesen. Jetzt geht sie vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassbourg.
Der entscheidet am 21. Juli 2011: Whistleblowing ist ein Menschenrecht. Und deshalb von Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention abgedeckt. Das Öffentlichmachen von Missständen hat in einer demokratischen Gesellschaft Vorrang vor den Geschäftsinteressen eines Unternehmens. Weil das Landesarbeitsgericht die härteste aller Sanktionen verhängt habe, “könnte das auch eine abschreckende Wirkung auf andere Mitarbeiter des Unternehmens gehabt und sie davon abgehalten haben, auf Mängel in der institutionellen Pflege hinzuweisen”, schreiben die Richter in dem Urteil.
Brigitte Heinisch arbeitet bei einem anderen Unternehmen und hat ihr erstes Buch veröffentlicht: „Satt und Sauber? Eine Altenpflegerin kämpft gegen den Pflegenotstand“ (Rowohlt Tb; Berlin 2008).

Den eigenen Arbeitgeber zu kritisieren oder gar anzuzeigen, um Missstände abzustellen, ist hierzulande ein großes Risiko. In der Regel wird dann von uneinsichtigen Arbeitgebern gemobbt und gekündigt. Bei den Arbeitsgerichten trifft man auf wenig Verständnis an, wenn Beschäftigte gegen ihren Arbeitgeber, z.B. mit berechtigter Kritik, vorgehen.
Die neue EU-Richtlinie zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen wird die Möglichkeiten und die Bereitschaft, Missstände im Betrieb anzuprangern, noch weiter einschränken.

Den Beschäftigten müssen Schutz, Begleitung und Beratung angeboten werden – dafür wäre die Einrichtung von bundesweiten und flächendecken Anlaufstellen durch den DGB, angebunden bei den Gewerkschaften vor Ort, notwendiger als je zuvor.

„Im Übrigen gilt hier (in Deutschland) derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher als der, der den Schmutz macht“ Kurt Tucholsky

Quellen: http://www.whistleblower-net.de/ und www.anstageslicht.de
Bild: 20zwoelf.de

aus: www.gewerkschaftforum-do.de