8. Januar 2021

Im Steinbruch Betriebsverfassung

Debatten um Gesetzesänderungen für Betriebsräte – von Rene Kluge*

In: express 12/2020

Wie können Betriebsräte die bestehende Rechtslage im Sinne einer beteiligungsorientierten und wirksamen Interessenvertretung nutzen? Betriebsräte können es sich nicht leisten, auf hilfreiche Gesetzesänderungen zu warten. Sie müssen mit den Mitteln arbeiten, die ihnen aktuell zur Verfügung stehen. Zum Ende dieses Jahres lohnt es sich dennoch, einen Blick sowohl auf laufende als auch auf vergangene Diskussionen zur Überarbeitung des Betriebsverfassungsgesetzes zu werfen.

Aktuelle Debatten um eine Aktualisierung des BetrVG

Der Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD vom März 20181 enthält einige diesbezügliche eher bescheidene Vorhaben. Nach langem Warten mehren sich die Hinweise, dass das Bundesarbeitsministerium in Kürze einen Entwurf für ein so genanntes »Betriebsrätestärkungsgesetz« vorlegen wird. Leider sind davon keine grundlegenden Verbesserungen zu erwarten. Neben einer Ausweitung des vereinfachten Wahlverfahrens auf Betriebe mit bis zu 200 wahlberechtigten ArbeitnehmerInnen ist lediglich eine Stärkung des Initiativrechts für Betriebsräte bei der betrieblichen Weiterbildung vorgesehen. Ein zwingendes Mitbestimmungsrecht bei Weiterbildung soll es aber nicht geben. Erfahrungsgemäß motiviert die erzwingbare Mitbestimmung über die Einigungsstelle die Arbeitgeber zu Zugeständnissen.

Auch wenn die Große Koalition keinen großen Wurf vorlegen wird, scheint das Thema betriebliche Mitbestimmung an Fahrt aufzunehmen. Im November hat die SPD-Fraktion ein Positionspapier zur Mitbestimmung2 vorgestellt. Es enthält die Forderungen, die gegen den Willen der CDU/CSU nicht umgesetzt werden konnten, darunter: eine nicht weiter ausgeführte Neudefinition des Betriebs- und Arbeitnehmerbegriffes, eine zusätzliche Vereinfachung des Wahlverfahrens, Mitbestimmung beim Einsatz von Künstlicher Intelligenz, erleichterte Beratung durch Sachverständige und ein Initiativrecht für Gesundheits- und Präventionsfragen. Interessant ist auch die Idee, betriebliche und gewerkschaftliche Mitbestimmung als verpflichtenden Teil in die schulischen Rahmenpläne zu integrieren.

Die Grünen haben dieses Jahr bereits zwei Anträge3 vorgelegt, in denen sie erfreulich weitgehende Forderungen zum Update des Betriebsverfassungsgesetzes formulieren. Es soll neue, erzwingbare Mitbestimmungsrechte bei der qualitativen Personalentwicklung und Personalplanung, der Arbeitsintensität, beim Homeoffice, bei der Erreichbarkeit, der Gleichstellung von Mann und Frau sowie bei der unternehmensweiten Klimabilanz geben. Auch ein Veto-Recht beim Einsatz von Werkvertragsbeschäftigten und digitale Zugangsrechte sind enthalten.

Die Linksfraktion arbeitet aktuell an einem umfassenden Konzept zur Reform des gesamten Betriebsverfassungsgesetzes (an dem der Autor teilweise beteiligt ist). In der Vergangenheit hatten die Linken bereits Forderungen vertreten, die mittlerweile von anderen Parteien übernommen wurden.4

Auch bei der IG Metall soll das Thema betriebliche Mitbestimmung in Zukunft wieder eine größere Rolle spielen. Nachdem man sich in den letzten Jahren mit Korrekturvorschlägen begnügt hatte, soll es nun die Runderneuerung statt des Facelifts sein. Ideengeber ist hier wohl Thomas Klebe, der im Mai dieses Jahres eine Reihe von Vorschlägen für eine Mitbestimmung 2030 entworfen hatte.5 Neu dabei sind unter anderem: ein erzwingbarer Interessenausgleich bei Betriebsänderungen, ein Initiativrecht beim Umweltschutz und eine Reihe von Regelungen, die die Mitbestimmung in transnationalen Unternehmen erleichtern soll.

Ob und inwiefern sich einige dieser Forderungen zukünftig wirklich im Betriebsverfassungsgesetz wiederfinden werden, hängt wohl auch vom Ausgang der nächsten Bundestagswahl ab. Es ist aber sinnvoll, nicht nur in die Zukunft, sondern auch in die Vergangenheit zu schauen. Debatten um die Betriebsverfassung werden schließlich nicht erst seit gestern geführt. Dennoch orientieren sich alle vorliegenden Entwürfe am bestehenden Betriebsverfassungsgesetz. Die letzte große Novellierung aus dem Jahr 2001 ist das Ergebnis eines politischen Aushandlungsprozesses, dessen Ergebnis zu Recht von vielen kritisiert wird. Warum sollte man das dann als Gesprächsgrundlage akzeptieren?

Ein Blick zurück nach vorn

Die damalige Debatte wurde vom DGB mit einem umfassenden, eigenen Gesetzentwurf begleitet.6 Am Ende konnten sich die Gewerkschaften damit zwar nicht durchsetzen, aber das bedeutet nicht, dass jene Forderungen nur noch von historischem Interesse sind. Im Gegenteil: Sie gehen in vielen Punkten über jetzige Entwürfe weit hinaus. Wolfgang Däubler hat sie deshalb als Steinbruch bezeichnet, aus dem man sich auch heute noch mit guten Ideen bedienen könne.7 Vor allem für die Diskussion innerhalb der Gewerkschaften ist es wichtig, sich klar zu machen, dass der gewerkschaftliche Mainstream in der Vergangenheit progressiver war als heute.

Der DGB-Entwurf sah unter anderem vor:

Wahl von Betriebsräten:

Schon ab drei ArbeitnehmerInnen (AN) sollte ein Betriebsrat gewählt werden. Ein vereinfachtes Wahlverfahren war für bis zu 100 ArbeitnehmerInnen obligatorisch vorgesehen. Es war tatsächlich vereinfacht, der Betriebsrat sollte nämlich auf einer einzigen Wahlversammlung gewählt werden. Für die Einladung zur Wahlversammlung in Betrieben ohne Betriebsrat sollte bei bis zu 100 AN eine einzige Person ausreichen. Betriebe ohne Betriebsrat hätten sich zudem in ein von den Berufsgenossenschaften geführtes Verzeichnis eintragen müssen.

Arbeit von Betriebsräten:

BR-Mitglieder sollten von der betrieblichen Tätigkeit freigestellt werden, sofern sie dies selbst als erforderlich ansehen. Schulungen hätten nicht mehr zwingend »erforderlich«, sondern lediglich »geeignet« sein müssen, um die Kostentragungspflicht des Arbeitgebers auszulösen – auch für alle Ersatzmitglieder. Beides eine erhebliche Erleichterung für Betriebsräte. Zusätzlich war der Austausch von Betriebsräten verschiedener Betriebe und Unternehmen explizit vorgesehen.

Mitbestimmung des Betriebsrates:

Der Betriebsrat sollte ein umfassendes, erzwingbares Mitbestimmungsrecht bei allen sozialen, personellen und wirtschaftlichen Angelegenheiten haben. Dies beinhaltete natürlich auch ein Initiativrecht des Betriebsrates in all diesen Fragen, verbunden mit der sinnvollen Regelung, dass der Betriebsrat zuerst einen schriftlichen Vorschlag vorlegen sollte. Im Ergebnis wären Betriebsräte weitaus einflussreicher gewesen, als es alle aktuellen Forderungen vorsehen. Bei personellen Einzelmaßnahmen beispielsweise hätte es ein volles, erzwingbares Mitbestimmungsrecht bei allen Einstellungen und Versetzungen gegeben

Auch ein volles Mitbestimmungsrecht beim Umweltschutz wurde damals gefordert; dies hätte dem Betriebsrat ein allgemeines umweltpolitisches Mandat gegeben. Hier waren auch die Grünen 1987 weiter, als sie es heute sind: Sie forderten ein Mitbestimmungsrecht in allen die Umwelt betreffenden Angelegenheiten, insbesondere bei Maßnahmen, die über gesetzliche und behördliche Mindeststandards hinausgehen.8

Die damaligen Entwürfe haben eine ausführlichere Würdigung verdient, als sie im Rahmen dieser kleinen Zusammenfassung möglich ist. Für die kommenden Debatten um die Mitbestimmung sollten sie von allen Beteiligten neu gelesen und diskutiert werden. Will man hinter die damaligen Forderungen zurückfallen, muss man Folgendes nachvollziehbar erklären können: Was konkret hat sich in den Betrieben mittlerweile derart geändert oder verbessert, dass infolgedessen eine verbesserte Arbeitsgrundlage und mehr Mitbestimmungsrechte für Betriebsräte nicht mehr nötig sind? Aus welchen Gründen sollte das, was 1998 bereits Beschlusslage war, heute nicht mehr gefordert werden? Die Notwendigkeit für einen erweiterten Arbeitnehmer- und Betriebsbegriff im BetrVG ist mit den modernen Betriebsweisen eher noch größer geworden.

Das Entscheidende bleibt weiterhin die betriebliche Praxis. Durch das Rütteln von Betriebsräten an allen Seiten der bestehenden Betriebsverfassung wird am deutlichsten, wo genau gesetzlicher Neuregelungsbedarf besteht und wie dringend er ist.

* René Kluge ist ehemaliger Betriebsratsvorsitzender und arbeitet als Betriebsratsberater für »Recht und Arbeit«

Anmerkungen:

1 Koalitionsvertrag für die 19. Legislaturperiode – Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land.

2 Positionspapier der SPD-Bundestagsfraktion: Mehr Mitbestimmung und mehr Teilhabe – 100 Jahre Betriebsverfassung und Schwerbehindertenrecht. 27. Oktober 2020.

3 Drucksache 19/16843 »Digitalisierung – Update für die Mitbestimmung« und Drucksache 19/17521 »Mehr Sicherheit für Beschäftigte im Wandel«.

4 z.B. Drucksache 18/5327 »Die Wahl von Betriebsräten erleichtern und die betriebliche Interessenvertretung sicherstellen«.

5 Thomas Klebe: Betriebsverfassung 2030: Zukunftsanforderungen und Weiterentwicklung. In: Arbeit und Recht, Nr. 5/2020.

6 Vorschläge des DGB zur Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes, 1998.

7 Vgl. Wolfgang Däubler, Michael Kittner: Geschichte der Betriebsverfassung, 2020.

8 Vgl. Drucksache 11/3630.

Mit freundlicher Genehmigung des

express – Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit

Email: express-afp@nullonline.de