Assistenzdienst: BR-Gründung perfide verhindert, Pflegemindestlohn verweigert

 

(gk) Ipsa-Vita ist der Name eines Dienstleistungsunternehmens aus Köln, das persönliche Assistenz für behinderte Menschen anbietet. Die etwa 200 Mitarbeiter*innen arbeiten in mehr als einem Dutzend Teams, die sich jeweils die 24 Stunden-Schichten für eine Klient*in aufteilen. Die Teams haben untereinander wenig Kontakt. Die Organisierung der Belegschaft ist deshalb eine schwierige Aufgabe. Ipsa Vita ist nur einer von mehreren Dutzend Anbietern allein in Köln, bei denen insgesamt  mehrere tausend Beschäftigte in der persönlichen Assistenz arbeiten.

In den Stellenanzeigen hört sich alles ganz toll an: Für die 24-Stunden Schichten, die Unterstützung der Klient*innen bei der “Grundpflege, der Arbeit sowie in der Freizeit” umfassen, bietet Ipsa Vita angeblich „faire Entlohnung“ und ein „harmonisches Betriebsklima“. Mit den beiden Geschäftsführern, den Gebrüdern Markert, sind viele Beschäftigte tatsächlich auf „Du“. Aber das ist nur die Oberfläche. Die schlechte Bezahlung und die unzumutbaren Arbeitsbedingungen brachten Mitarbeiter*innen eines Teams schließlich dazu, sich zur Wehr zu setzen: Weder erhalten die Beschäftigten bei Ipsa-Vita den Pflegemindestlohn – obwohl die Pflege einen erheblichen Teil ihrer Arbeit ausmacht, noch gibt es einen neunköpfigen Betriebsrat, der die Interessen der Beschäftigten vertritt, wie es das Betriebsverfassungsgesetz bei einem Unternehmen dieser Größe vorsieht. Zuschläge für Sonn- und Feiertagsarbeit gibt es nicht, die Geschäftsführung begnügt sich damit, den Assistent*innen zu Weihnachten einen 30 Euro Gutschein zu überreichen.

“Der nicht gewährte Pflegemindestlohn bei Ipsa Vita ist nicht untypisch in denjenigen Assistenzbetrieben der Bundesrepublik, wo es weder betriebliche Interessensvertretung noch eine gewerkschaftliche Organisierung gibt“, so Klaus Drechsel vom bundesweiten Zusammenschluss der Unabhängigen Arbeitnehmer*innenvertretungen in der persönlichen Assistenz (UAPA).

Corona: Krankschreiben verboten

Auslöser für die Aktivitäten der Beschäftigten bei Ipsa Vita war eine Mail vom 16.März 2020 im Auftrag der Geschäftsführung, die work-watch vorliegt. Der Krankenstand sei so hoch, dass Ipsa-Vita auch über die flexibel einsetzbaren Springer*innen die Assistenz nicht mehr „abdecken“ könne. „Da unsere Kund*innen Eure Hilfe benötigen, bitten wir Euch inständig, Euch nicht auf “Verdacht” oder bei leichten Symptomen [..] krank zu melden“, so hieß es in der E-Mail weiter, die zu Beginn der Corona-Pandemie verfasst worden war. Der nicht nur epidemiologisch zweifelhaften Bitte folgte eine klare Erpressung. Sollte es bei einem so hohen Krankenstand bleiben, „können wir bei der Lohnabrechnung nur zuerst die tatsächlich geleisteten Assistenzschichten vergüten, um die Assistenz unserer Kunden sicherzustellen.“

Diese Mail brachte das Fass zum Überlaufen. Ein Team, das die seit einem schweren Schlaganfall mit Anfang 30 im Rollstuhl sitzende Anama Fronhoff unterstützte, wollte sich nicht mehr alles gefallen lassen. Das Schreiben der Geschäftsführung sei angesichts der Pandemie „völlig verantwortungslos“ gegenüber den häufig mehrfach vorerkrankten Kund*innen gewesen, so ein Mitarbeiter des Teams. Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auszusetzen sei außerdem ein „Offenbarungseid, mit dem versucht wird, das unternehmerische Risiko auf uns Beschäftigte abzuwälzen.“

Nach Beratung mit der Gewerkschaft ver.di, UAPA und work-watch setzten sich die bei Anama Fronhoff arbeitenden Assistent*innen zwei Ziele: Die Gründung eines Betriebsrates und eine Bezahlung nach dem Pflegemindestlohn, der einen Stundenlohn von aktuell 11,80 Euro vorsieht. Hoffnung machten ihnen vor allem die Erfahrungen bei anderen Trägern der persönlichen Assistenz. „Es gibt mindestens einige tausend Kolleg*innen bundesweit, die den Pflegemindestlohn erhalten oder sogar überschreiten”, so Klaus Drechsel. „Das sind die Belegschaften des UAPA-Netzwerks, die sich zu organisieren begonnen haben, durch Betriebsratsgründungen, Tarifkommissionswahlen bis hin zum Abschluß von Tarifverträgen.“

Bei Ipsa Vita folgten Versuche der Vernetzung mit den Assistent*innen der anderen Teams – und Gespräche mit der Geschäftsführung. Die reagierte mit Abwehr, so die Assistent*innen. Sie „könnten nicht mehr Lohn zahlen, weil das Sozialamt zu wenig finanziere“, zitieren Beschäftigte  aus dem Gespräch, außerdem „hätten andere Assistenzdienste noch schlechtere Arbeitsbedingungen“. Laut Bundesanzeiger erzielte das Unternehmen jedoch 2019 einen Bilanzgewinn von 1,65 Millionen Euro.

Als einzelne Kolleg*innen dann versuchten, den Pflegemindestlohn über die Gewerkschaft ver.di geltend zu machen, kam es zu einem Abbruch der Gespräche und schließlich zur Kündigung des Vertrages mit Anama Fronhoff. Wegen der Zweckbefristung im Arbeitsvertrag endete damit auch die Beschäftigung ihrer persönlichen Assistent*innen zum Ende des Monats März 21.

Kündigung durch die Hintertür

„Ich war geschockt“, so Anama Fronhoff. Tatsächlich beträgt die Kündigungsfrist nur vier Wochen. Für die schwerbehinderte Rollstuhlfahrerin, die nach ihrem Schlaganfall mühsam wieder das Sprechen erlernt hat, war das eine harte Entscheidung. In einen kurzfristig anberaumten Zoom-Meeting wurde ihr der Grund mitgeteilt, „dass einer der Geschäftsführer eine Auszeit nehmen wollte und somit nicht genügend Kapazitäten für die weitere Koordination des Teams vorhanden wären.“ Als dieser Geschäftsführer am nächsten Tag auf eine Mailanfrage hin seine Bereitschaft erklärte, mit einer neuen Assistenznehmerin einen Vertrag abzuschließen, fühlte sich Anama Fronhoff benutzt und hintergangen. Zudem sei es nicht einfach, „innerhalb eines Monats einen neuen Anbieter zu finden.“

Nun sind mehrere Prozesse vor dem Kölner Arbeitsgericht zu Kündigungsschutz und Pflegemindestlohn anhängig. Es habe „Reibereien“ mit Anama Fronhoff gegeben, begründete die Geschäftsführung in einem Gütetermin Anfang April die Kündigung, war aber nicht bereit zu beschreiben, worin diese „Reibereien“ denn bestanden hätten.

„Uns sind aus den letzten Jahren mehrere Fälle bekannt, in denen gewählten Betriebsratsgremien die Arbeit erschwert wurde“, so Klaus Drechsel von UAPA. Allerdings sei „die Verhinderung einer BR-Gründungsinitiative durch Kündigung der Kundin und damit des Assistent*innenteams ein uns bisher unbekannter, trauriger Höhepunkt“. Er befürchte, „dass ein Fall wie dieser im Dunkelfeld bundesdeutscher betrieblicher Assistenz-Realitäten kein Einzelfall ist.“

Außerdem behauptete die Geschäftsführung während des Gütetermins, die Assistent*innen erbrächten „keine Pflegeleistungen, sondern nur Betreuungsleistungen.“ Deshalb stehe ihnen der Pflegemindestlohn nicht zu. Tatsächlich besteht ein Anspruch auf Pflegemindestlohn, wenn mindestens ein Viertel der Arbeit pflegerische Tätigkeit ist. Bei Anama Fronhoff, die vor ihrem Schlaganfall als Intensivpflegerin gearbeitet hat, ist das definitiv der Fall: Nach ihren Angaben beträgt die pflegerische Tätigkeit bei einer 24-Stunden Schicht mehr als sieben Arbeitsstunden für Grundpflege und Toilette.

Auf Anfragen von work-watch hat die Geschäftsführung von Ipsa-Vita nicht reagiert. Doch Schweigen wird den Konflikt nicht lösen, der nicht nur auf juristischer, sondern auch betrieblicher Ebene weiter ausgefochten werden soll. „Wir unterstützen jeden mutigen Schritt solidarischer Selbstorganisierung unserer Kolleg*innen“, so Klaus Drechsel von UAPA. Auch Robin Orlando von ver.di verurteilt das Vorgehen der Geschäftsführung von Ipsa Vita, die Gewerkschaft gewährt den Kläger*innen Rechtsschutz. „Wir rufen alle Beschäftigten von Ipsa Vita auf, sich in ver.di zusammenzuschließen, um eine starke und wirksame Interessenvertretung im Betrieb aufzubauen“, so der Gewerkschaftssekretär Robin Orlando.